Der aus den 40. Journées internationales d’histoire de Flaran (2018) hervorgegangene Band »Mises en réserve« setzt sich zum Ziel, Bevorratung von Getreide als Gegenstand der Sozialgeschichte zu etablieren. Der Fokus des Bandes liegt auf dem ländlichen Raum des Früh- und Hochmittelalters sowie des 18. Jahrhunderts. Nach einer allgemeinen Einführung in Erscheinungsformen, Entwicklungslinien und Fragestellungen rund um die Lagerung von Getreide (Michel Lauwers) gliedert sich der Band in drei Teile, die sich 1.) Techniken der Lagerung, 2.) sozialen Praktiken der Vorratshaltung und 3.) Versorgungs- und Bevorratungswegen widmen.

Der Band umfasst archäologische und wissenschaftsgeschichtliche Zugänge neben politik-, wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Beiträgen. Die durch die Gliederung suggerierte inhaltliche Dreiteilung erweist sich beim Lesen als porös: Techniken der Getreidelagerung zu verstehen bedingt fast zwangsläufig eine Auseinandersetzung mit unserem Wissen – oder unseren Annahmen – über soziale Strukturen. Die Unterscheidung zwischen Politik und Semantik der Getreidevorratshaltung auf der einen und der Getreideversorgung auf der anderen Seite wird in der Praxis der Untersuchungen beständig unterlaufen. Dies ist ein großer Vorzug des Bandes, der zu Vergleichen anregt und einige beitragsübergreifende Leitmotive sichtbar macht.

Erstens zeigt sich für das Mittelalter, dass materielle und textliche Quellen konsistent unterschiedliche Spielarten und soziale Orte von Getreidevorratshaltung beleuchten. So sind in Schriftquellen vor allem herrschaftliche Anliegen der Getreidelagerung und -redistribution greifbar, während familiäre und dörfliche Praktiken erst unter Einbeziehung der materiellen Kultur sichtbar werden. Besonders Giovanna Bianchi und Simone M. Collavini, die Archäologie und pragmatische Schriftlichkeit der hochmittelalterlichen Toscana explizit vergleichend untersuchen, betonen diese Zweiteilung der Erkenntnismöglichkeiten. Harmony Dewez zeigt, wie Kornspeicher im England des 13. Jahrhunderts als herrschaftliche Instrumente dienten, die über die schriftliche Niederlegung von Speichervolumen Kontrolle und Planung ermöglichten. Nicolas Perreaux weist in seiner Untersuchung von Getreide- und Speicherlexik auf die Parallelität der Etablierung von contrôle seigneurial, der wachsenden Regulierung von Getreidespeicherung und der Entwicklung von Gedanken über Vorratshaltung in der kirchlichen Rhetorik (horreum celeste) hin, während die aus materiellen Zeugnissen bekannte lokale Silovorratshaltung aus der Sicht des Urkundenbestands weniger reguliert und hierarchisiert erscheint.

Diese Ergebnisse sprechen bereits das zweite Leitmotiv des Bandes an: den Konnex zwischen der Verbreitung baulicher – und damit demonstrativer – Getreidespeicher im 13. Jahrhundert, der Intensivierung der contrôle seigneurial, die sowohl im kirchlichen wie im weltlichen Bereich Zentralisierungen von Getreidevorräten mit sich brachte, sowie der damit verbundenen Macht zur Umverteilung (vor allem Beiträge von Lauwers, Dewez, Bianchi/Collavini, Perreaux). Während Getreidevorräte im Alltag zunächst eine gewisse Unabhängigkeit vom täglichen Marktgeschehen bedeuteten, erlaubte erst größere Vorratshaltung, sei es gemeinschaftlich auf Ebene der Gemeinde oder Kommune, sei es durch klösterliche wie weltliche Grundherrschaften, Ressourcenkontrolle über das Jahr hinaus und damit auch Spielräume für marktalternative Umverteilung (etwa in der Armenfürsorge) oder Marktbeeinflussung, wie Laurent Feller zeigt.

Dennoch beleuchtet der Band drittens gerade die Vielfalt der Getreide lagernden Welt jenseits feudaler Zentren und erreicht damit das selbstgesteckte Ziel, dichotom zwischen Autarkie und Abhängigkeit changierende Bilder vormoderner ländlicher Bevorratung zu demontieren (Lauwers). Odile Maufras und Caroline Puig arbeiten auf Basis archäologischer Untersuchungen im Süden Frankreichs (Missignac, Taxo-d’Avall) dörfliche Organisationsformen – einschließlich ihres Augenmerks auf Erreichbarkeit und Überwachbarkeit – von Getreidesilos heraus. Didier Panfili betrachtet die Organisation der Getreideproduktion und -lagerung bei den Zisterziensern, die durch die Abkehr von direkter Bewirtschaftung im Spätmittelalter einschneidende Veränderungen erfuhr. In seinem Beitrag zur Vorratshaltung im Karolingerreich zeigt Jean-Pierre Devroey unterschiedliche Spielarten zentraler und dezentraler Getreidespeicherung durch Klöster, in Gemeinden (Zehnt) sowie zur Versorgung der königlichen familia. Mohammed Ouerfelli gibt einen Überblick über Orte der Getreidelagerung in der westlichen muslimischen Welt und weist auf die Abhängigkeit der Möglichkeit von Vorratshaltung von stabilen politischen Verhältnissen hin, die alle sozioökonomischen Ebenen betraf. Pierrick Pourchasse widmet sich Getreideimporten aus dem Ostseeraum nach Westeuropa und positioniert Zwischenspeicher in Danzig und anderen Ostseehäfen sowie in Amsterdam im Zentrum eines soziopolitischen Konjunkturen unterworfenen Versorgungswegs.

Bei aller Vielgestaltigkeit des Phänomens Getreidelagerung tritt aus dem Band dennoch, viertens, die Inelastizität seiner Bedingungen deutlich hervor. Die natürlichen Grenzen der Getreideakkumulation und -bevorratung – wie etwa die Dauer der Ernte- und Dreschprozesse, die Haltbarkeit gedroschenen Getreides oder die Schwierigkeiten der Transportwege – bedingten nicht nur jeweils zeitgenössisch die angewandten Organisationsprinzipien, sondern zeitigten auch eine bemerkenswerte Konstanz der Lagerungsmethoden über die gesamte Vormoderne hinweg (vgl. die Beiträge von Lauwers, Bianchi/Collavini, Ouerfelli). Wouter Ronsijn und Laurent Herment untersuchen republikanische Enquêtes über Getreidevorräte in Nordfrankreich und Flandern (1792–1794) und arbeiten heraus, dass angesichts der Dauer von Ernte und Dreschprozess sowie der schlechteren Lagerfähigkeit gedroschenen Getreides im Herbst/Winter der Enquête das meiste Getreide noch nicht gedroschen vorlag. Ähnliche Kapazitätsgrenzen sowie Unsicherheiten des Marktes führten auch dazu, dass von Bauern, die zur Spekulation dem Markt Getreide vorenthielten, kaum in signifikantem Maße die Rede sein konnte, wie Fulgence Delleaux zeigt. In der Versorgung der französischen Armee in Flandern mit bretonischem Getreide während des Spanischen Erbfolgekriegs (1709/1710) konnte sich, so Sklaerenn Scuiller, trotz der Risiken keine Alternative zum Transport über See durchsetzen, da Zwischenlagerung und Frachtkapazitäten auf dem Landweg die Armeeversorgung finanziell und logistisch unmöglich gemacht hätten. Thierry Michel zeichnet in seinem Beitrag den wissenschaftlichen Diskurs nach, der sich schließlich im 18. Jahrhundert der Verbesserung der Getreidelagerung (Belüftung, Reinigung) widmete, und überprüft die Übernahme neuer Techniken in der Praxis anhand nordfranzösischer Nachlassinventare.

Gerade aufgrund des facettenreichen Spannungsverhältnisses zwischen kulturell spezifisch ausgestaltbaren Organisationsformen und Konstanz der ihnen gesetzten Grenzen lässt die durchwegs lohnende Lektüre von »Mises en réserve« keinen Zweifel daran, dass Bevorratung ein ergiebiger Gegenstand der Sozial- und Politikgeschichte bleiben wird. Anschlussfähig sind die präsentierten Ergebnisse weiters an Forschungen zu Nachhaltigkeit, im ökologischen, ökonomischen und sozialen Sinn.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Maximiliane Berger, Rezension von/compte rendu de: Michel Lauwers, Laurent Schneider (dir.), Mises en réserve. Production, accumulation et redistribution des céréales dans l’Occident médiéval et moderne. Actes des 40es Journées internationales d’histoire de Flaran, 12–13 octobre 2018, Toulouse (Presses universitaires du Midi) 2022, 336 p. (Flaran, 40), ISBN 978-2-8107-0790-4, EUR 26,00., in: Francia-Recensio 2023/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94531