Alain de Libera hat ein besonderes Renommee als philosophischer Eckhartforscher. In diesem Buch legt er nun eine kompetente, auch für Nichtfachleute gut lesbare Beschreibung und Erläuterung der Grundgedanken der dominikanischen Mystik bei Meister Eckhart, Heinrich Seuse und Johannes Tauler vor. Das Buch enthält zwei Teile. Zunächst werden auf 130 Seiten die Geschichte und die Lehre der sogenannten »Rheinischen Mystik« vorgelegt. Er nennt dies auch »Eckhartismus«, und er fasst diesen auf S. 134 in einem Zitat aus dem »Paradisus anime intelligentis« in einem Predigtwort des Helwic de Germar zusammen, das er mit einer Reprise bei Angelus Silesius ergänzt. Es geht um das Innensein des Wortes Gottes im Seelengrund, um die Gottesgeburt im Menschen. Es ist eine »inkarnatorische Mystik«, die man auch eine spezifische »Theologie« nennen kann, sei sie »rheinisch« oder – »plus général« – »deutsch« (S. 135). In der französischen Fachliteratur wird Eckhart ja auch gern »le Thuringien« genannt. Von Helwic führt auch eine Spur zu Johannes vom Kreuz in Spanien (S. 113f.).

Dieser Teil beschäftigt sich zunächst ausführlich mit dem historischen Kontext. Das ist sehr hilfreich, denn er wird durch die Auseinandersetzung um die Theologie an der Sorbonne (Verurteilung durch den Bischof von Paris, ÉtienneTempier, im Jahr 1277) und durch die kirchenamtliche Häresiebekämpfung bestimmt. Gerade was die Häresie betrifft, sind Selbstzeugnisse der Betroffenen in den Quellen nicht vorhanden, sieht man von Marguerite Poretes »Miroir des simples âmes« ab, die – zu Unrecht – des Libertinismus verdächtigt und in einem manipulativ geführten Prozess verurteilt wurde. Die faire Beschreibung dieser prekären Situation, in der nur die »amtlichen« Quellen nachweisen, worin die Verdächtigung bestand, ist schwierig. Hier kann man auf den von de Libera herangezogenen Beitrag von Niklaus Largier verweisen, der »volkssprachliche Texte des 14. Jahrhunderts« untersucht hat und bemerkt, dass hier in der literaturhistorischen Forschung noch einige Klärungen anstehen1.

Der Rezensent verweist in diesem Zusammenhang auf den »Occultus Erfordensis« des Nicolaus von Bibra (nach 1280)2, ein satirisches Gedicht, das in Erfurt zwei sehr unterschiedliche Frauenbewegungen charakterisiert: die frommen Beginen, Beter- und Büßerinnen, die sozial tätig sind und nach einer seelischen Erhebung (jubilus, auch von Eckhart in seinen Erfurter Reden zitiert) suchen. Von ihnen zu unterscheiden sind nach Nicolaus die Frömmigkeit vortäuschenden wandernden Straßenfrauen, die sich mit den Scholaren einlassen, als die »libertären« Bewegungen.

Diesen Unterschieden sollte man weiter nachgehen. Das ändert aber nichts an der Betrachtung de Liberas, dass Eckhart, mehr noch Johannes Tauler und Heinrich Seuse, auch auf dem Hintergrund kirchlicher Verurteilungen und Verfolgungen gelesen werden müssen. Freilich geht es dabei nicht oder nicht nur um eine cura monialium, sondern auch um eine teils kritische, teils aufbauende Begleitung der spirituellen Laienbewegungen. Hier bietet sich ein Vergleich der Maria/Martha-Legende mit Eckharts Verteidigung des »Wirkens« als Fortsetzung der »Wirklichkeit«, d. h. in der Aktivität aufgenommenen göttlichen Handelns in und an der Welt, an. In dieser spirituell freundlichen und kirchlich gefährlichen Atmosphäre hilft de Libera mit seiner Nachzeichnung der Gefährdung Eckharts – trotz seiner Differenzierungen, die gut markierbar sind, sowie seiner Verteidigung durch Seuse und Tauler. Diese Darstellung des Buches, hier schwer nachzuzeichnen, ist souverän. Insbesondere hat Seuse das Verdächtige als »das Wilde« charakterisiert – darin wird deutlich, dass er nicht mit »gefestigten« Häresielehren umgeht. Es bleibt das Problem einer »kirchlichen« Ketzergeschichte, die eine unvoreingenommene Nachforschung erschwert.

Der größere zweite Teil ist eine »Anthologie«, d. h. eine thematische Zitation bzw. Nachzeichnung der Impulse und Leitbegriffe dieser dominikanischen Theologie im 14. Jahrhundert (S. 139–316). Die Themen sind: L’humilité (»Demut«); Le détachement (»Abgeschiedenheit«); Le délaissement et la pauvreté (»Gelassenheit und Armut«); La déréliction? la souffrance et la mort (»Selbstaufgabe? Leiden und Tod«); L’intellect et le fond de l’âme (»Intellekt und Seelengrund«); Amour et connaissance de Dieu (»Liebe und Gotteserkenntnis«); Grâce et déification (»Gnade und Vergöttlichung«); La prière et les sacrements (»Gebet und Sakramente«). Zu all diesen Themen stellt de Libera zentrale Texte vor und kommentiert sie auf eine sehr einfühlsame Weise. Eine besondere Leistung besteht darin, dass de Libera jeweils zentrale Texte Eckharts voranstellt oder einfügt und dann – mit genauer Auswahl und vorzüglicher Kenntnis – Texte von Seuse oder Tauler heranzieht, in denen diese Texte kommentiert bzw. weitergeführt werden. Dieser Kommentar bringt sowohl die Eigenheiten Taulers (inspiriert von Bertolt von Moosburg) zum Ausdruck, als auch bei Seuse nicht nur die »Rettung« der Impulse Eckharts, sondern auch deren Weiterführung in poetisch-lyrischer und persönlich bekennender Weise.

Dieses kleinformatige Taschenbuch ist als das Werk eines Kenners und Meisters, der seine gedankliche Präzision mit einfühlsamen spirituellen Kommentaren verbindet, sehr zu empfehlen. Der Rezensent hat es mit großem Gewinn und Bewunderung gelesen. Es ermuntert die Germanisten und Theologen freilich auch dazu, den bisher unedierten – teilweise nur transkribierten – Schriften mit der Zuweisung zu Meister Eckhart genauer nachzugehen – es sind etwa 84 mittelhochdeutsche Predigttexte, die nicht in der wissenschaftlichen Ausgabe »Meister Eckhart, Deutsche Werke« stehen –, und es ermuntert Theologiehistoriker auch dazu, dem Thema »Mystik, Recht und Freiheit« angesichts kirchlicher Verurteilungen in möglichst fairer Weise auf die Spur zu kommen. Außerdem stellt sich immer wieder neu die Frage nach der Aktualität dieser »Mystik« als »Theologie«, die auch in aktuellen institutionellen Verlusten von »Kirche« eine inspirierende Anregung bereithält.

1 Niklaus Largier, Das Glück des Menschen. Diskussionen über beatitudo und Vernunft in volkssprachlichen Texten des 14. Jahrhunderts, in: Jan A. Aertsen, Kent Emery, Andreas Speer (Hg.), Nach der Verurteilung von 1277 / After the Condemnation of 1277. Philosophie und Theologie an der Universität von Paris im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts. Studien und Texte / Philosophy and Theology at the University of Paris in the Last Quarter of the Thirteenth Century. Studies and Texts, Berlin, New York 2001 (Miscellanea Mediaevalia, 28), S. 827–855).
2 Der »Occultus Erfordensis« des Nicolaus von Bibra, ed. Christine Mundhenk, Weimar 1997 (Schriften des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt, 3), S. 243–245.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Dietmar Mieth, Rezension von/compte rendu de: Alain de Libera, Maître Eckhart et ses disciples, Montrouge (Bayard) 2020, 318 p., ISBN 978-2-227-49810-5, EUR 14,90., in: Francia-Recensio 2023/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94534