Harald Müllers Buch zum Karlsthron erscheint zu einem Zeitpunkt, an dem die Entmythisierung der »Stauferkunst« einen Höhepunkt erreicht hat. So konnte beispielsweise durch jüngste Untersuchungen für das Cappenberger Kopfreliquiar ein für alle Mal bestätigt werden, dass dieses ikonische Bildwerk nicht Barbarossa darstellt, sondern Johannes den Evangelisten1. Im vorliegenden Essay wird nun in aller Deutlichkeit der sogenannte Karlsthron in Aachen entmythisiert, was den bisweilen etwas emotional gekochten Diskussionen um diesen legendenumwobenen Stuhl Heilung bringen dürfte.
Der an der RWTH Aachen lehrende Historiker Harald Müller gliedert seinen Essay in neun Kurzkapitel, auf die ein 20-seitiger Anhang mit Quellen- und Literaturverzeichnis sowie der Anmerkungsapparat und ein Register folgen.
In Kapitel I (S. 9–14) umreißt Müller grob verschiedene Sackgassen in der Forschungsgeschichte zum Aachener Thron sowie methodische Desiderata und plädiert dafür, den Blick vom »Karls Thron«, d. h. der Objektgeschichte, auf den »Karlsthron«, sprich dessen Medialisierung, hin auszuweiten. Dabei sollen die Textquellen mehr in ihrem Kontext verstanden und die politisch Handelnden in den Vordergrund gerückt werden.
Kapitel II (S. 15–37) beginnt wiederum mit einem Rückblick auf die 1899 mit Joseph Buchkremer beginnende Forschungsgeschichte und zeigt deren Entwicklung vom Deskriptiven ins Dokumentative auf. Dabei zeichnet Müller auch die Geschichte der wissenschaftlichen Analysen nach und legt den Finger auf die Wunde: Selbst die erneut durchgeführten dendrochronologischen Untersuchungen von 2000 ergaben keine belastbaren Erkenntnisse hinsichtlich einer karolingischen Datierung des Throns2.
Es folgt das zentrale und rund 40 Seiten starke Kapitel III (S. 39–77) zum Thron in den Schriftquellen mit sieben Unterkapiteln. Dabei räumt Müller in aller Deutlichkeit noch einmal ein, dass sowohl bei den Chronisten Einhard (um 770–840) wie auch Widukind von Corvey (um 925–973) (S. 50) keine Rede von einem karolingischen Thron ist, erst Thietmar von Merseburg (um 975–1018) geht auf einen Thron bei ottonischen Krönungen sowie auf die Rolle Karls des Großen als Bezugspunkt ottonischer Herrschaft (S. 56) ein. Während die ersten vier Unterkapitel nach fränkischen und ottonischen Chronisten aufgezäumt sind, treten ab Kapitel fünf die herrscherlichen, zunächst staufischen, ab Heinrich VII. auch frühneuzeitlichen Akteure in den Vordergrund.
Auch Kapitel IV (S. 79–85) zum Thron im Bild soll den Konnex zwischen Karl dem Großen und dem Thron dekonstruieren und aufzeigen, dass in ottonischen Darstellungen nicht der Aachener Karlsthron gemeint, sondern ein Thron dargestellt ist. Die dargestellten Throne erhalten in staufischer Zeit ab Konrad III. vermehrt eine neue Ikonografie mit einer Rückenlehne, meist mit Giebel, sowie Knäufen. Gleichsam gilt, und das zeigt auch der Karlsschrein mit den ubiquitären Throndarstellungen: Modell stand nicht der Aachener Thron.
Nach den beiden Exkursen in die Schrift- und Bildquellen kehrt Müller in Kapitel V (S. 87–96) nochmals zurück zu den Sackgassen in der Interpretation des Throns. Dabei weist er darauf hin, dass neben den fehlenden Beweisen für eine Karlszuschreibung auch für weitere Behauptungen der Forschung die Nachweise fehlen. Dazu gehören die Funktionszuschreibung als Reliquiar sowie auch die Herkunft der Marmorplatten aus Jerusalem. So notwendig diese Feststellung auch ist, so hätte auch Müller in seiner Fragestellung, wann oder ob der Marmor aus der Grabeskirche in Jerusalem nach Aachen gebracht wurde, noch einen Schritt weitergehen können. Ebenso interessant und aus den Schriftquellen gut erschließbar wären doch auch die Fragen, seit wann man dies glaubte und wie sich der Glaube an das heilige Material in den Quellen niederschlug bzw. wie er für die jeweilige Herrscherpropaganda instrumentalisiert worden ist.
In Kapitel VI prüft Müller die Möglichkeit und Grenzen weiterer bzw. erneuter Materialuntersuchungen, insbesondere der Marmorplatten von Thron und Altar sowie von Marmor aus der Grabeskirche in Jerusalem. Dabei spricht er sich für eine erneute Beprobung des Holzsitzes aus, nicht ohne allerdings auf eine von vorneherein begrenzte Erkenntnisleistung dieser Untersuchungen hinzuweisen, weil der Thron nachweislich eben aus vielen Versatzstücken konstruiert worden war.
Mit diesen Materialuntersuchungen einhergehend plädiert Müller im anschließenden Kapitel VII für eine Umpolung der Fragestellungen weg vom objektbezogenen Fokus hin zur kontextuellen Einbindung des Throns in Handlungszusammenhänge.
Kapitel VIII ist noch einmal den Schriftquellen gewidmet. Auch wenn dieses Kapitel mit der Schilderung der verschiedenen Etappen in der Sakralisierung des Aachener Throns die wichtigsten Punkte des gesamten Essays bereithält, kommt man nicht umhin, einige Wiederholungen zu entdecken. Das mag ein voller Vorlesungssaal durchaus verkraften, die wachsame Leserschaft aber möglicherweise etwas strapazieren, zumal diese drei Etappen auch im resümierenden letzten Kapitel nochmals auf den Punkt gebracht werden.
So steht denn auch Kapitel IX mit dem Fazit ganz im Zeichen der Entmythisierung des Karlsthrons. Gemäß Müller sollte es nicht um die Authentizität des Throns gehen, sondern vielmehr um das Phänomen der Authentifizierung – um deren Rolle für die Herrschaftsausübung. Dabei werden Desiderate ausgesprochen, die Knut Görich z. T. bereits 2013 formuliert hatte, nämlich, dass die Stiftsgemeinschaft als Hauptnutznießerin der Heiligsprechung Karls des Großen 1165 einen vernachlässigten Gegenstand der Forschung darstelle3.
Der lebendig geschriebene Essay garantiert Lesegenuss und ist, abgesehen von einigen inhaltlichen Redundanzen und ganz wenigen Druckfehlern, sorgfältig redigiert. Die Stärke liegt in Müllers quellenkritischem Umgang mit überholten Mythen, im Aufbrechen einer Karlsfixierung sowie im Kontextualisieren, indem auch die Medialisierung des Throns als eigentlicher Teil der Objektgeschichte verstanden und ihre Erforschung eingefordert wird. Der angesprochene Adressatenkreis reicht von spezialisierten Historikern wie Kunsthistorikern bis hin zu den Studienanfängern und interessierten Laien, die nach einer quellenkritischen Grundlage zum Karlsthron suchen. Mit dem vorliegenden Buch haben sie diese definitiv gefunden, auch wenn Müller trotz seines scharfen kritischen Blicks manchmal in alte Denkmuster fällt. Wie oben bereits geschildert, wären Fragen nach dem warum anstatt des wer und woher zielführender gewesen und hätten die allgemeine Stoßrichtung, der Medialisierung des Throns mehr Aufmerksamkeit zu schenken, argumentativ bekräftigen können. Dass die Aachener Säulen aus Rom und Ravenna geholt worden seien, ist fraglich, denn auch Aachen selbst, Trier oder Köln wären als mögliche Herkunft diskutabel4. Bisweilen wähnt man sich im Vorlesungsaal, wenn es z. B. grundsätzlich um die Frage nach der Wissenschaftlichkeit geht (S. 103), auch die locker eingebetteten Diskurse (S. 106) entsprechen dem mündlichen Vortragsstil, was aber den Lesegenuss keineswegs dämmt, im Gegenteil gerade den essayistischen Stil ausmacht. Im Ganzen gesehen liegt mit Müllers Essay zum sogenannten Karlsthron eine wichtige Publikation vor, die die Erforschung des Throns auf den Stand der heutigen Fragestellungen bringt.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Sabine Sommerer, Rezension von/compte rendu de: Harald Müller, KarlsThron. Monument und Mythos, Stuttgart (Hiersemann) 2021, 161 S., 3 Abb. (Zeitenspiegel Essay, 3), ISBN 978-3-7772-2133-5, EUR 28,00., in: Francia-Recensio 2023/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94538