Bereits die Formulierung des Titels weist auf Unterschiede hin, die zwischen der deutschen und französischen mediävistischen Verwandtschaftsforschung bestehen. Fragt man östlich des Rheins eher nach den sozialen und politischen Konsequenzen einzelner personaler Verbindungen, steht bei den stärker anthropologisch orientierten französischen Untersuchungen oftmals das Grundkonstrukt eben dieser Verbindungen und dessen Verhältnis zur Gesellschaft im Zentrum.

Der zweite Kernbegriff des Titels, die »conjugalité«, ist für deutsche Leser nicht unbedingt einfach zu verstehen. Zum einen, weil es sich dem Wort nach um einen selten gebrauchten Terminus handelt, offenbar ein wenig erfolgreicher Neologismus des 19. Jahrhunderts (so »Bescherelle« [1887]), der sich in den umfassenden Wörterbüchern neueren Datums nicht überall findet (wie etwa im »Petit Robert« von 2010). In deutsch-französischen Lexika hat es die »conjugalité« nicht immer zu einem Eintrag gebracht, und die angebotenen Übersetzungen »Eheleben« oder »Ehelichkeit« treffen den Kern der Sache nicht, geht es doch nur selten um »Szenen einer Ehe« oder die Legitimität des Nachwuchses. Faute de mieux wird man im Deutschen, möchte man den dadurch bezeichneten Zustand des »als-Paar-zusammen-Lebens« griffig formulieren, vielleicht am ehesten auf Wendungen wie »Verheiratetsein« zurückgreifen, auf »Verbundensein« oder vielleicht besser »Paarsein«, will man die von der Verfasserin ebenfalls berücksichtigten nicht-ehelichen Gemeinschaften einbeziehen.

Gewöhnungsbedürftig für den deutschen Rezipienten dürfte es auch sein, dieses Konzept als einen historischen Untersuchungsgegenstand zu fassen und sich von den aus seiner Forschungstradition geläufigen Fragestellungen nach Eherecht, Heiratspolitik und Genealogie immer wieder aufs Neue zu lösen. Dieser Differenz entspricht es, dass nur auf diesen Feldern (selten) auch deutsche Forschungen angeführt werden (einschließlich der Aufsätze etwa ein Dutzend Werke verschieden großen Umfangs). Die Verbindung zur französischen Forschung findet sich allerdings auch bei der Auswahl der Quellen, zumal keine genuin ostfränkisch-deutschen Zeugnisse herangezogen werden, der umfassende Erklärungsanspruch für das gesamte »haut Moyen Âge« strenggenommen noch der Verifizierung bedarf.

Der Aufbau der Arbeit ist stringent. Zunächst nähert sich die Verfasserin ihrem Thema (»Une notion difficile à définir, une réalité difficile à saisir«) inhaltlich und bestimmt dessen Verhältnis zu den relevanten Forschungsrichtungen (Familien- und Verwandtschaftsgeschichte, Geschichte von Heirat, Frauen und Gender sowie der Paare, S. 11–36). Einzelne Kapitel beschreiben dann die Lebenswirklichkeit der Paarexistenz als eine »norme diversement vécue« (S. 37–92), nähern sich dem »Rätsel des Paares« (»L’énigme du couple«, S. 93–144), eruieren den Grad der daraus resultierenden Gemeinsamkeit (»Être un couple: vivre, faire et paraître ensemble«, S. 145–218) und den Funktionen der Verbindung (»Fonctionner en couple: s’ouvrir à l’alterité?«, S. 219–286). Am Ende jedes Unterkapitels wird der jeweilige Ertrag in einer knappen Zusammenfassung gebündelt; ein generelles Fazit beschließt die eigentliche Arbeit (S. 287–290), bevor neben den üblichen Verzeichnissen eine durchaus nützliche, das Verständnis der Autorin transparent machende Liste des »vocabulaire du couple et de la conjugalité« (S. 291–295), der Abdruck von 18 zentralen Textstellen mit Übersetzung (S. 297–343) sowie ausgewählte Stammtafeln folgen (S. 345–354). Diese Ergänzungen (wie auch das Register) erhöhen die Benutzbarkeit des Buches.

Diese klare Gliederung ist umso notwendiger, als das Untersuchungsfeld in den Quellen keinesfalls einfach zu greifen ist. Da über Selbstverständlichkeiten nicht oder nur selten bzw. en passant berichtet wird, ist die Normalität der Paarexistenz nichts, was größeren Niederschlag in den Quellen gefunden hätte, im Gegensatz zu devianten Lebensformen. Rückschlüsse sind daher auch nicht immer mit wünschenswerter Zwangsläufigkeit zu ziehen, doch gelingt es der Autorin durch ihren analytischen Zugriff und die notwendige Vorsicht, generelle Thesen zu entwickeln, die gerade für die deutsche Forschung durchaus Denkanstöße darstellen könnten. Dies gilt in allererster Linie für deren Konzentration auf das Ehepaar als überwiegend praktizierte Lebensform, die aber eben nur einen Teil der Paarexistenz darstellt, tatsächlich aber so aufwändig und teuer, damit auch sozial konnotiert, dass sie sich vornehmlich in Oberschicht und Adel findet.

Demgegenüber führten, wie das vorliegende Werk zeigt, wirtschaftliche, politische oder finanzielle Gründe zur Bildung von Lebensgemeinschaften, die mutmaßlich in dem Sinne »monogam« waren, dass die Partner exklusiv einen Haushalt gemeinsam führten, ohne aber tatsächlich verheiratet zu sein. Die Paarexistenz wurde so tatsächlich zur am weitesten verbreiteten Lebensform der Zeit (im Übrigen auch von Klerikern); allerdings nahm sie ihrem Zustandekommen nach entsprechend vielfältige Formen an und wirkte als lebendes Bindeglied zwischen Familien und Verwandtschaftsgruppen, war damit eine Art »Kitt« der Gesellschaft, für sich genommen aber Zentrum eines mehr oder minder weit reichenden Netzwerks.

Hinsichtlich der Entwicklung dieser Struktur ist einmal mehr die Karolingerzeit als Zäsur anzusehen. Im Unterschied zur in diesem Zusammenhang offenbar wenig aktiven Frühzeit findet sich nunmehr eine Debatte über die Paarform des Zusammenlebens, mit dem Resultat, dass mit der aus religiösem Impetus heraus erfolgten Konzentration auf die Einehe (anstelle der dadurch keineswegs verschwindenden männlichen Polygamie oder dem Konkubinat) zugleich auch die Präsenz des Ehepaars als gemeinsam öffentlich handelnde Einheit gestärkt wurde. Der spätere Schub, den die Verdichtung der Adelsfamilien auf stärker historisch ausgerichtete Geschlechter (»lignage«) dann brachte, stellte das Nachfahren hervorbringende Ehepaar auch als handelnde Einheit noch stärker in den Vordergrund, während trotz aller später dann auch reformkirchlichen Bestrebungen die nicht-eheliche Paarexistenz insbesondere jenseits der Eliten fortbestand, und sei es aus wirtschaftlicher Opportunität. Von hier aus führt der Weg dann in das nicht mehr behandelte Spätmittelalter, das wiederum unter neuen Rahmenbedingungen andere Formen der Paarbindung und veränderte Diskurse über das Zusammensein hervorbrachte.

Das Werk eröffnet einen neuen Blick auf die Gesellschaft des Mittelalters als eine Gesellschaft von Paaren – nicht unbedingt Ehepaaren –, von dem aus eine Vielzahl von Perspektiven entwickelt werden (etwa zur Frage des Gefühlshaushaltes der Paare ,S. 110–117; zur Rolle von Ehepaaren in der Politik jenseits von »Heiratspolitik«, S. 132–135 etc.) und weitere entwickelt werden könnten. Der Verfasserin ist damit nach ihrem Buch über die Witwenschaft (»Des femmes éplorées? Les veuves dans la société aristocratique du haut Moyen Âge«, 2003) ein weiteres grundlegendes Werk zur unmittelbaren Lebenswelt des früh- und hochmittelalterlichen Menschen gelungen, das zumindest den Blick auf die Elitengebundenheit traditioneller Betrachtungen relativieren sollte, bestenfalls aber als Anstoß zum Überdenken einiger selten hinterfragter Vorannahmen dienen könnte.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Gerhard Lubich, Rezension von/compte rendu de: Emmanuelle Santinelli-Folz, Couples et conjugalité au haut Moyen Âge (VIe–XIIe siècles), Turnhout (Brepols) 2021, 407 p., 11 b/w fig., 19 b/w tab., 3 b/w maps (Haut Moyen Âge [HAMA], 43), ISBN 978-2-503-59503-0, EUR 95,00., in: Francia-Recensio 2023/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94546