Biografien des westfränkischen Königs (840–877) und späteren Kaisers (seit 875) Karl des »Kahlen« und auf seine Regierungszeit konzentrierte Darstellungen sind rar. Lässt man das über hundert Jahre alte, an den »Jahrbüchern der deutschen Geschichte« orientierte Werk von Ferdinand Lot und Louis Halphen, »Le règne de Charles le Chauve (840–877)« von 1909 außer Acht, das nur die Zeit bis 851 erfasst, liegt außer dem 1957 erschienenen und 1981 nachgedruckten Band des Schweizer Mediävisten Paul Zumthor, »Charles le Chauve«, lediglich Janet Nelsons immer noch maßgebliche Darstellung (»Charles the Bald«, 1992) vor, die 1994 ins Französische übersetzt wurde (»Charles le Chauve«, trad. par Denis-Armand Canal). Das neue Buch des renommierten französischen Historikers Laurent Theis, der bereits Biografien von Dagobert (1982), Chlodwig (1996), Hugo Capet (1984) und Robert dem Frommen (1999) vorgelegt, aber auch allgemein zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte publiziert hat, füllt deswegen zweifellos eine schmerzliche Lücke.

Theis bietet keine Biografie im engeren Sinne, sondern, wie der Untertitel bereits andeutet, eine themen- und problemorientierte Darstellung von Leben und Herrschaft des Herrschers. In elf Kapiteln, die jeweils ein bestimmtes Datum im Titel tragen, erörtert der Autor die zentralen Ereignisse im Leben Karls und die Strukturen seiner Herrschaft. So nimmt Kapitel I, »Juillet 833. Un fils en trop«, den Tag, an dem der zehnjährige Karl nach dem Aufstand seiner Brüder gegen Ludwig den Frommen von seinem Vater getrennt und für mehrere Monate dem Kloster Saint-Médard zu Soissons übergeben wurde, zum Anlass, die Familienverhältnisse und die daraus resultierenden Nachfolgeprobleme bis hin zum karolingischen Bruderkrieg zu erläutern, und diskutiert die möglichen auch psychischen Auswirkungen auf Karl. Kapitel II, »25 juin 841. La guerre et la paix«, geht vom Tag der Schlacht von Fontenoy aus, um den Bruderkrieg bis zum Abschluss des Vertrags von Verdun zu behandeln, dessen Bedeutung und Folgen erörtert werden, und wirft zuletzt noch einen Blick auf die Schlacht von Andernach. Karls Weihe, Salbung und Krönung in Orléans durch Erzbischof Wenilo von Sens bietet in Kapitel III, »6 juin 848. Le tour du monde du roi Charles«, den Ausgangspunkt für die Schilderung von Karls Politik gegenüber Aquitanien, der Bretagne und den unter arabischer Herrschaft stehenden Gebieten auf der Iberischen Halbinsel. Kapitel IV, »Fin mai 853. Les enjeux de la prédestination«, geht von der Synode von Quierzy aus, die sich mit der Prädestinationsfrage befasste, und widmet sich Gottschalk, Johannes Scotus Eriugena und Karls Bildung und Bücherliebe.

Am 19. Januar 854 schenkte Karl den vor Normannenüberfällen geflohenen Mönchen von Noirmoutiers eine neue Zufluchtsstätte; im entsprechenden Kapitel V, »19 janvier 854. Cruels normands!«, umreißt Theis die das 9. Jahrhundert prägende Normannengefahr. Den Epiphaniastag des Jahres 859, als Karl an der feierlichen Translation des hl. Germanus in Auxerre teilnahm und persönlich die Gebeine zur neuen Grabstätte trug, nimmt Kapitel VI, »6 janvier 859. Le saint et le roi«, zum Ausgangspunkt, um Karls Religiosität darzustellen, sein Interesse an Reliquien, seine Förderung der Klöster, von denen er mehrere seinen Söhnen anvertraute und denen er zuweilen selbst vorstand. Auch der Bericht über den Einfall Ludwigs des Deutschen ins Westfränkische Reich, der Mitte Januar 859 erfolglos endete, findet seinen Platz in diesem Abschnitt. Kapitel VII, »25 juin 864. Au service de la chose publique«, nutzt die Versammlung von Pîtres zur Erläuterung der Kapitulariengesetzgebung und der Herrschaftspraxis Karls, der Durchführung von Synoden und Reichsversammlungen bis hin zur Verwendung der Sprachen bei diesen Gelegenheiten.

In dieser Weise geht es weiter: Im besonders anregenden (und mit Abstand längsten) Kapitel VIII, »25 août 866. Le cercle de famille«, in dem die Salbung, Weihe und Krönung von Karls Gemahlin Ermentrud in Saint-Médard zu Soissons den Kristallisationspunkt bildet, interpretiert Theis umsichtig die damit verbundenen Feierlichkeiten, unter Einbeziehung der Eheschließung Judiths, der Tochter Karls und Ermentruds; er widmet sich eingehend Rang und Bedeutung Ermentruds, aber auch Richildis’, der zweiten Gemahlin Karls, geht auf die Ehescheidungsprobleme König Lothars II. und schließlich auf die Schicksale der Töchter und insbesondere der Söhne Karls ein. Die Feierlichkeiten rund um die Krönung Karls 869 in Metz und deren Folgen werden in Kapitel IX, »9 septembre 869. Le rendez-vous du sacre« eingehend dargelegt. Kapitel X, »16 juillet 876. ›Charles, espoir rayonnant d’or‹«, setzt mit dem Tag ein, an dem Karl bei einer Reichsversammlung in Ponthion in byzantinischer Kleidung auftrat. Thema des Kapitels sind die Darstellungen Karls insbesondere in der Buchmalerei, die in seiner Zeit außergewöhnlich zahlreichen Preziosen und Kunstgegenstände und das Interesse des Königs für griechisch-byzantinische Kultur und Literatur. Theis erwägt die Möglichkeit, dass Karl die griechische Sprache wenigstens in Grundzügen verstand. Kapitel XI, »Début 878? Une politique du rêve«, behandelt die Bedeutung frühmittelalterlicher Visionen sowie Tod und Begräbnis Karls; im »Épilogue. Esquisse de portrait d’un roi« versucht Theis, den zeitgenössischen Quellen Hinweise auf Charakter und Persönlichkeit Karls zu entlocken.

Theis formuliert prägnant, und auch wenn er zuweilen spekulativ und ein wenig zu phantasievoll in seinen Schlussfolgerungen scheint, ist er äußerst anregend. Er verzichtet auf ein Literaturverzeichnis und verwendet Fußnoten nur ganz sparsam. Aus einer bewundernswerten Quellenkenntnis heraus und in sorgfältiger Auswertung und umsichtiger Interpretation dieser Quellen gelingt Theis eine souveräne, gut lesbare Darstellung der Zeit und Herrschaft Karls des Kahlen, der für ihn »der andere große Karolinger« ist, »l’autre grand Carolingien«, neben Karl dem Großen. Viel stärker als dieser habe Karl der Kahle Frankreich geformt. – Sieben qualitätvolle Farbabbildungen der zeitgenössischen Darstellungen Karls des Kahlen, bei denen nur die Beschriftung leider durcheinandergeraten ist, sind der Darstellung beigefügt. Eine Karte, eine Stammtafel, die Chronologie der Herrschaft Karls und ein Personenregister beschließen den empfehlenswerten, anregenden Band.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Irmgard Fees, Rezension von/compte rendu de: Laurent Theis, Charles le Chauve. L’empire des Francs, Paris (Gallimard) 2021, 272 p., ill. en coul., carte, tab. généal., ISBN 978-2-07-292657-0, EUR 21,00., in: Francia-Recensio 2023/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94549