Der vorliegende französischsprachige Band befasst sich mit einer der ältesten erhaltenen lateineuropäischen Karten, der mappa mundi von Albi, und präsentiert die Ergebnisse einer Serie von interdisziplinären Forschungsseminaren, die 2015/2016 im Rahmen des Laboratoire de médiévistique occidentale der Universität Paris 1 Panthéon-Sorbonne in Zusammenarbeit mit der Mediathek Pierre-Amalric und der Universität Jean-François Champollion in Albi abgehalten wurden, ergänzt um einige zusätzliche Beiträge. Ziel der Herausgeberinnen Emmanuelle Vagnon und Sandrine Victor ist es, Grundlagen für weitere Forschungen an dieser zwar nicht zuletzt wegen ihres Status als UNESCO-Weltdokumentenerbe weitbekannten, aber bisher kaum in der Tiefe untersuchten Weltkarte zu liefern. Entsprechend neueren Forschungsansätzen, wollen sie die mappa mundi in intellektuellen mittelalterlichen Praktiken verankern. Damit kommt das Zusammenspiel zwischen den Texten und der Karte in der Sammelhandschrift (Mediathek Pierre-Amalric, Albi, ms. 29 [115]) sowie dem Umfeld von Erstellenden und Lesenden in den Blick. Die mappa mundi soll als intellektuelles Produkt und Werkzeug ihrer Zeit betrachtet werden, und zwar aus der Perspektive verschiedener Disziplinen. In dem Band nimmt allerdings der historische Blick den Hauptteil ein.

Vagnon und Victor bieten in der Einleitung neben einem Überblick zum Forschungsstand zur mappa mundi von Albi vor allem eine Synthese der Diskussionen der Seminare, die sich über Datierung, Provenienz, Kontext, Quellen/Modelle und kulturelle Nutzung der Sammelhandschrift sowie den Vergleich mit weiteren Karten erstreckt. Einigkeit herrscht, dass die Handschrift im letzten Viertel des 8. Jahrhunderts von einer Gruppe von Kopierenden mit Verbindungen zu Nordspanien/Südfrankreich als formell kohärente Zusammenstellung von Texten aus dem 5. und 7. Jahrhundert gefertigt wurde. Zudem wurde die Handschrift, die spätantike Geografievorstellungen vermittelt, in späteren Zeiten wiederholt ergänzt und restauriert. Strittig diskutiert wurden mögliche Zusammenhänge der Karte mit antiken Traditionen und christlicher Geografie.

Der Hauptteil des Bandes ist in drei Abschnitte gegliedert: der erste widmet sich der Handschrift und ihrer Geschichte, der zweite ihrem kulturellen Kontext und der dritte der Karte als Markierung von Vermittlung und Übertragung. Die Annäherung an die Handschrift erfolgt zunächst in einem historischen Überblick über die frühmittelalterliche Geschichte Albis von Jean-Louis Biget. Die Handschrift selbst steht im Fokus der Kuratorin des Bibliothekennetzes von Albi, Jocelyne Deschaux, die den Kontext des Skriptoriums sowie die Verwahrung, Nutzung und Erhaltung der Handschrift im Lauf der Zeit beleuchtet. Die materielle Analyse eines Teams vom Centre de recherche sur la conservation, Muséum national d’histoire naturelle, präzisiert den Erstellungsprozess und die Struktur der Handschrift. Ihren Inhalten wendet sich Nadège Corbière zu. Sie fragt nach Erstellung, möglichen Lesern und Kontext. Dabei stellt sie die überzeugende These auf, dass die bisher eher als disparat angesehene Textsammlung als Enzyklopädie aufgefasst werden kann, die der Vermittlung von Wissen über die Welt, die Bibel und kirchliche Dogmen diente. Die Vielfalt der Texte kam demnach dem Wunsch entgegen, dieses Wissen aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten, ohne dass zur Durchdringung zwingend eine innere Ordnung nötig war.

Der zweite Abschnitt des Bandes fokussiert auf die Übertragung von Wissen. Claire Tignolet und Magali Coumert arbeiten heraus, dass die Texte und die Weltkarte der Handschrift ein Bild der Welt vermitteln, das sich ohne Aktualisierungsversuche aus antikem Wissen speist, was sie als charakteristisch für den Vorabend der karolingischen Renaissance einstufen. Tignolet hebt darüber hinaus die Vielfalt der Genres der Texte als Besonderheit der Handschrift hervor, aus der die figurative Karte noch hervorsticht. Coumert stellt die konzeptionelle Einheit der Karte und der bisher als fehlerbehaftet gedeuteten Liste der Meere und Winde auf der Folgeseite der Sammelhandschrift fest und interpretiert ihr Zusammenspiel als kosmografische Beschreibung der Welt, ein grafisches Schema der Schöpfung mit rein figurativer Geografie. Im Anschluss bietet der Latinist Jacques Elfassi einen Überblick über das geografische Wissen bei Isidor von Sevilla, der als grundlegender Vermittler antiken Wissens als Modell für die karolingischen Reformen gilt und auch der mappa mundi von Albi als Hauptquelle diente.

Der dritte Abschnitt widmet sich dem Vergleich der Weltkarte von Albi mit anderen Karten. Jean-Baptiste Amat zieht die zwischen 762 und 777 entstandene Vatikankarte (BAV, Vatikanstadt, Vat. Lat. 6018, fol. 63v–64) heran. Er kommt zu dem Schluss, dass beide Karten von ihren Kartenmachenden konzeptioniert wurden, und sieht die Herausbildung gemeinsamer Codes in den grafischen Elementen. Alfred Hiatt vergleicht die beiden vorgenannten Karten zudem mit der Cotton Karte (BL, London, Cotton Tiberius B.V [1], fol. 56v, 1. Hälfte 11. Jahrhundert) und schließt auf ein ähnliches antikes Modell aller drei Karten. Julie Richard Dalsace kann herausarbeiten, dass auch die verschiedenen Variationen von mappae mundi bei Isidor von den Kopierenden konzipiert wurden, die neben dem Wissen aus dem jeweiligen Text noch zusätzliche Erkenntnisse einbezogen. Der Orientalist Jean-Charles Ducène stellt fest, dass die Karte von Albi keinen Einfluss im arabischen Raum hatte. Ähnlichkeiten mit arabischen Karten sind wohl auf eine gemeinsame spätantike Quelle zurückzuführen.

Das Lesen des Bandes wird durch Farbabbildungen der mappa mundi und der Liste der Meere und Winde, ergänzt um Transkriptionen (S. 16–17, 94, 176), Übersetzungen und genaue Aufschlüsselungen des Inhalts der Sammelhandschrift mit Verweisen auf die aktuellen Texteditionen (S. 18–19, 122‑124) sowie Farbabbildungen von Vergleichskarten und -texten angenehm unterstützt. Aufgrund des gelungenen Ansatzes bietet der Band eine Reihe von Anknüpfungsmöglichkeiten für weitere Forschungen verschiedener Disziplinen und ist daher für ein breites Fachpublikum lesenswert. Andenken könnte man beispielsweise neben der Vertiefung der präsentierten Studien zum inneren Zusammenhang der Sammelhandschrift, zum Zusammenspiel der verschiedenen Medien oder zur Herkunft der Farben vor allem auch Fragen nach dem sozialen Kontext der Handschrift und nach der Ausbildung des Mediums Karte.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Gerda Brunnlechner, Rezension von/compte rendu de: Emmanuelle Vagnon, Sandrine Victor (dir.), La »Mappa Mundi« d’Albi. Culture géographique et représentation du monde au haut Moyen Âge, Paris (Éditions de la Sorbonne) 2022, 280 p., 39 ill. (Histoire ancienne et médiévale, 180), ISBN 979-10-351-0786-4, EUR 30,00., in: Francia-Recensio 2023/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94551