Mittelalterliche Bischöfe haben in der Forschung seit Längerem Konjunktur. Erstaunlicherweise gibt es nach wie vor Aspekte, die trotz ihrer fraglosen Bedeutung gleichsam durchs Raster gefallen sind und erst wenig Beachtung gefunden haben. In seiner Zürcher Dissertationsschrift widmet sich Philip Zimmermann einem solchen Thema: der bischöflichen Armenfürsorge in der Merowingerzeit. Während es zwar eine Reihe wichtiger Untersuchungen zu Armut und Armenfürsorge in der quellenmäßig ergiebigeren Karolingerzeit gibt, wurde dieser Aspekt für die Merowingerzeit – wenn überhaupt – nur en passant behandelt.

Der Verfasser ist neben den normativen Grundlagen der Armenfürsorge auch an deren Mechanismen interessiert, vor allem aber geht es ihm um das Nachdenken der Zeitgenossen über Armut und bischöfliche Fürsorge – es ist dies ein Gesichtspunkt, der in seiner Untersuchung breiten Raum einnimmt.

Zimmermann gliedert seine Arbeit in vier Abschnitte, denen eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse (S. 235–238) folgt. Nach einem knappen Aufriss des Forschungsstandes und einem Überblick über die verwendeten Quellen folgt eine breit angelegte Begriffsanalyse (S. 25–92), sodann geht es um die – im weitesten Sinne – normative Begründung der Armenfürsorge (S. 93–198); zwei kürzere Abschnitte gelten den konkreten Maßnahmen (S. 199–218) sowie deren historischer Funktion (S. 219–234).

Zunächst untersucht Zimmermann durch minutiöse Textanalyse das Vokabular, das den Armutsdiskurs der Zeitgenossen bestimmte. Angesichts der Tatsache, dass die kirchliche Armenwohlfahrt in der Forschung stereotyp als Ausdruck der caritas bezeichnet wird, liegt es nahe, die Verwendung ebendieses Begriffes im frühen Mittelalter zu untersuchen (S. 27–44). Zimmermann kommt zum Schluss, dass caritas im Zusammenhang mit Armut oder Armenfürsorge in den zeitgenössischen Quellen gar nicht auftaucht. Stattdessen steht caritas in erster Linie für die Gemeinschaft der Bischöfe untereinander: In diesem Sinne bezeichnet caritas das Band der christlichen Liebe, welches die bischöflichen Amtsbrüder zu Gliedern einer Gemeinschaft macht, die zu gegenseitiger Achtung und Unterstützung verpflichtet sind. Dementsprechend werden Bischöfe, die sich über kirchenrechtliche Vorschriften hinwegsetzen, oftmals mit dem Ausschluss aus der caritas bedroht. Ob hiermit zwangsläufig auch die Exkommunikation einherging, wird aus den Quellen nicht ganz klar, allerdings kann Zimmermann Zeugnisse anführen, wo explizit vom Ausschluss aus der caritas und von Exkommunikation die Rede ist, während andere Quellen nur den Ausschluss aus der caritas als Strafe androhen und Exkommunikation unerwähnt lassen.

Im Anschluss erfolgt die Analyse der Begriffe, mit denen das Frühmittelalter Arme und das Almosengeben bezeichnete: Wie der Verfasser feststellt, begegnet neben dem pauper noch eine Reihe weiterer Begriffe (vgl. S. 45), besonders egens/egenus scheint prominent vertreten. Neben den Werken Gregors von Tours bezieht Zimmermann hier auch die Schriften des Venantius Fortunatus mit ein (neben dessen Lyrik wird von den Prosaviten nur die »Vita Radegundis« untersucht – der Grund für diese Auswahl wird nicht klar).

Während bei Venantius Fortunatus die einzelnen Begriffe insgesamt recht unscharf verwendet werden und in der Regel Mittellose bzw. Bedürftige bezeichnen, kann Zimmermann bei Gregor von Tours einen differenzierten Wortgebrauch nachweisen. Während egens/egenus in aller Regel den Mittellosen meint, also den Armen im materiellen Sinne, kann pauper zum einen als Synonym für egens verwendet werden, zum anderen aber auch einen Menschen von niederem sozialen Status bezeichnen, der womöglich schlechter gestellt ist als der Großteil der Stadtbevölkerung, keineswegs aber mittellos ist. Pauper kann in diesem Sinne auch »machtlos« bedeuten, also jemanden bezeichnen, der nicht die Möglichkeit hat, sich gegen raffgierige Ankläger oder korrupte Richter (= potentes) zur Wehr zu setzen, und der daher den Beistand des Bischofs braucht. Mittellos ist er nicht, da es gerade sein Landbesitz oder andere Besitztümer sind, auf die es die potentes abgesehen haben. Diese interessante Beobachtung legt zumindest nahe, dass bereits das frühe Mittelalter eine Unterscheidung zwischen absoluter und relativer Armut gekannt haben dürfte. Zimmermann kann plausibel aufzeigen, dass die relative »Offenheit« des Armutsbegriffs, wie er bei Gregor von Tours begegnet, nicht zuletzt dazu diente, den Zuständigkeitsbereich des Bischofs – der ja von Amts wegen für die Armenfürsorge verantwortlich war – auszuweiten. Hiervon profitierten nicht nur die von der Fürsorge begünstigten pauperes, sondern auch der fürsorgende Bischof selbst, da er von den unterstützten pauperes im Gegenzug Loyalität erwarten konnte (S. 225–230).

Auf diese Begriffsbestimmungen folgt die Analyse der normativen Grundlagen und Begründungen der bischöflichen Armenfürsorge. Gerade die Behandlung biblischer Aussagen zu Armut (S. 95–120) erweist sich als wichtig, da viele der einschlägigen Schriftstellen – wie Zimmermann zeigen kann – auch in merowingerzeitlichen Texten angeführt werden, um Armenfürsorge normativ zu begründen. Dass im Rahmen der nur kurz angeschnittenen »patristischen Vergleichspunkte« (S. 121–126) gerade Clemens von Alexandrien und dessen einschlägige Schrift »Quis dives salvetur« fehlen, mag überraschen, es ist aber in Anbetracht dessen, dass Clemens’ Schriften im lateinischen Mittelalter kaum rezipiert wurden, zu verschmerzen. Ausführlicher fällt die Analyse der rechtlichen Quellen aus. Während die Volksrechte und auch das römische Recht (Zimmermann berücksichtigt den »Codex Iustinianus« nicht, da sich in der Merowingerzeit eine Rezeption nicht nachweisen lässt) insgesamt wenig ergiebig sind, ist das Kirchenrecht (S. 138–168) im Hinblick auf die verfolgte Fragestellung umso reichhaltiger. Auffällig ist hier, dass die pauperes regelmäßig im Zusammenhang mit dem Schutz des Kirchenguts erwähnt werden: Wer sich am Besitz der Kirche vergreift, so heißt es wieder und wieder, sei nichts anderes als ein »Mörder der Armen« (necator pauperum), da es Zweck des kirchlichen Besitzes sei, hiermit die Armen zu unterhalten. Wer diesen Besitz entwendet oder für sich reklamiert, entzieht den Armen ihre Lebensgrundlage.

Es gibt daneben aber auch eine Reihe von Konzilsbeschlüssen, die direkt die bischöflichen Fürsorgepflichten behandeln. An dieser Stelle wäre es womöglich gewinnbringend gewesen, nicht nur gallische Synodalbeschlüsse, sondern auch das Dekretalenrecht mit in die Untersuchung einzubeziehen und zu schauen, inwieweit die gallische Synodalgesetzgebung römische Ordnungsvorstellungen von der Vierteilung des kirchlichen Besitzes rezipierte – eine dieser portiones stand ja den Armen zu. Immerhin waren zwei päpstliche Schreiben, worin entsprechende Regelungen überliefert sind, auch im Merowingerreich verbreitet (und zwar »Necessaria rerum« [J³ 1270] Gelasius’ I. und der »Libellus responsionum« Gregors des Großen; demgegenüber kam »Relatio nos vestrae« [J³ 1166] des Papstes Simplicius wohl erst mit der »Dionysio-Hadriana« ins Frankenreich). Eine solche Untersuchung steht meines Wissens bislang noch aus.

In den Ausführungen zu konkreten Maßnahmen kann Zimmermann sodann plausibel machen, dass bischöfliche Fürsorge in der Regel nicht vom Privatvermögen des Bischofs, sondern vom Kirchenvermögen finanziert wurde – Letzteres scheint allerdings in vielen Fällen durch großzügige Spenden des Bischofs vermehrt worden zu sein (S. 215–217). Zum Schluss zeigt der Verfasser an den Quellen, dass Armenfürsorge ein integraler Bestandteil der bischöflichen Amtsaufgaben war, weshalb gute und schlechte Bischöfe nicht selten nach ihren Fürsorgetätigkeiten (bzw. deren Unterlassung) beurteilt wurden (S. 221–224).

Im Ganzen handelt es sich um eine willkommene Studie zu einem wichtigen Thema, das nicht nur für die Sozialgeschichte von Bedeutung ist und dennoch bisher kaum behandelt wurde. Dem Verfasser ist hoch anzurechnen, dass er dem teils gut erforschten Quellenmaterial eine Reihe neuer Erkenntnisse zu entlocken vermag.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Till Stüber, Rezension von/compte rendu de: Philip Zimmermann, Armut und Bischofsherrschaft. Bischöfliche Fürsorge in der Merowingerzeit, Ostfildern (Jan Thorbecke Verlag) 2022, 266 S. (Vorträge und Forschungen. Sonderband, 63), ISBN 978-3-7995-6773-2, EUR 38,00., in: Francia-Recensio 2023/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94554