Sie lebt noch, die berühmte Buchreihe »L’évolution de l’humanité«, die in den 1930er-Jahren mit Bänden von Paul Alphandéry, Lucien Febvre und Marc Bloch (»La société féodale«) begann und zusammen mit den »Annales« eine grundsätzliche Wende der französischen Geschichtsschreibung einleitete. Inzwischen haben zahlreiche französische Historiker in ihr neue Akzente gesetzt. Ihr Leiter ist jetzt Mathieu Arnoux, bekannt durch seine Forschungen zur Wirtschafts-, Sozial- und Technikgeschichte der Normandie. 2012 veröffentlichte er in dieser Buchreihe seinen wegweisenden Beitrag zur Agrargeschichte »Le temps des laboureurs«. Jetzt geht es um Bedarf und Gesellschaft im mittelalterlichen Europa, er nennt das etwas überraschend »Un monde sans ressources«. Mit dem Begriff der Ressourcen macht er es sich nicht leicht. Erst der Ökonom Jean-Baptiste Say (1767‑1832) habe diesem Begriff seine heutige Bedeutung vermittelt. Ansätze zu einem solchen Verständnis im Zusammenhang mit den Angeboten der Natur, ihrem service purement gratuit, sucht er jedoch schon in spätmittelalterlichen Texten, unter anderem in der Bedürfnislehre der Kartäuser und Franziskaner, aber auch schon in den Reaktionen auf die schwere Hungerkrise des 11. Jahrhunderts (Raoul Glaber u. a.).
Auch die volkssprachliche Literatur wird hinzugezogen, ausführlich vor allem der populäre »Roman de Renart« (S. 191–229), dessen älteste Fassung der Elsässer Heinrich von Glîchezaere schon 1192 ins Mittelhochdeutsche übertragen hat. Spott, la »légerté drôle« (Dictionnaire des Lettres françaises, 1992, S. 1314), war offensichtlich das Erfolgsrezept dieses Versromans bei der zeitgenössischen Leserschaft. Mit seinen zahllosen Anspielungen hat sich die Wissenschaft lange schwergetan, Arnoux nutzt die von dem Romanisten François Zufferey neuerlich erzielten Fortschritte. Das Verständnis dem heutigen Leser zu vermitteln, fordert freilich Erklärung. Die übergeordnete Fragestellung gerät da etwas aus dem Blick, man lernt, dass mit »Noble le lion, roi cocu et corrompu« der anglo-normannische König gemeint sein muss und mit dem Kamel Musart ein päpstlicher Legat erscheint, der sich lange um eine versöhnende Heirat zwischen dem englischen Thronfolger (Richard Löwenherz?) und Alix, der Tochter König Ludwigs VII. von Frankreich, bemühte. Was aber sind die sozialkritischen Beschwerden? Renart selbst erscheint als gieriger und gerissener Profiteur inmitten einer Krise des Überganges vom Subsistenzregime zu einer neuen Form von économie de stock, in der Bereicherung durch Ansammlung von Reserven zum Alltag gehört und die Moral verfällt. Für Mathieu Arnoux beschreibt der »Roman de Renart« eine »société sans transcendance et sans valeur« (S. 129).
Ähnliches gilt für Kapitel 4, gewidmet dem neuen landwirtschaftlichen Großkonzern der Zisterzienser und dessen ordnungspolitischen Maßnahmen, wie sie sich in den Statuten der jährlichen Generalkapitel niedergeschlagen haben. Es ist ein Kapitel voller aktualisierter Einzelbeobachtungen, die freilich in eine »Welt ohne Ressourcen« nicht passen. Das jährliche Generalkapitel des Ordens erscheint als Großveranstaltung mit mehreren hundert »Entscheidern örtlicher Wirtschaftsführung« und erheblichen logistischen Problemen. In aller Offenheit geißelt ein Statut von 1190 die Gier bei den ständigen Zukäufen der Klöster (S. 149). Gegen profitorientierte Händler des Ordens hatte man schon 1134 Beschlüsse gefasst. Ab 1180 beginnt die Aufnahme hoher Schulden, zunächst vereinzelt, später systemisch. Bekannt sind darüber hinaus die gewerblichen Aktivitäten zur Produktion von Eisen, Glas, Ziegeln, Salz, alle verbunden mit erheblichem Energieeinsatz, hohem Bedarf an Holzkohle, Kampf um Waldrechte und Walderwerb. Dieses Thema von kapitaler Bedeutung bedarf weiterer Erforschung. Beim Salzsieden in der Franche-Comté gab es frühe Kartellabsprachen unter den beteiligten Zisterzienserabteien. Weitere Abschnitte gelten den Arbeitsbedingungen der zisterziensischen Konversen. In den südlichen Ländern ist die Rede von sarazenischen Sklaven, denen die Abteien des Ordens keine Sklavinnen zur Reproduktion zuführen sollen (S. 170f.). Die Neuzeit lässt grüßen.
Wir sind damit erst bei knapp zwei Dritteln des Buches angelangt. Den Bericht über die Kapitel 5 bis 7 muss ich kürzer halten, obwohl noch besonders reizvolle Themen anstehen. Zum Verhältnis von Ressourcen und den verfügbaren technischen Systemen (5) gehört die Bemerkung, dass die geläufigen Kurven der Ökonomen bislang beim Energieverbrauch des vorindustriellen Zeitraums praktisch linear verlaufen, als gäbe es in dieser langen Periode keine Konjunkturschwankungen. Hier ist offensichtlich Forschungsbedarf angesagt, einiges habe ich in meiner 2022 erschienenen Anthologie von Quellen zur mittelalterlichen Energiegeschichte angezeigt. Mathieu Arnoux spricht die wirtschaftliche Dynamik des 12.–13. Jahrhunderts an, die Zeit kannte erheblichen Rückgriff auch auf die Schätze des Untergrundes. Eine auf das Mittelalter bezogene Kurve des Energieverbrauchs würde erhebliche Schwankungen des Energieeinsatzes erkennen lassen. Auch im Mittelalter verbrannte man schon Steinkohle.
Kapitel 6 richtet den Blick auf die Entwicklung von Paris zur Großstadt 1130–1328 unter umweltgeschichtlichem Aspekt, während das letzte Kapitel erneut auf den steigenden Bedarf und den stark vermehrten Einsatz von Wasserkraft und Brennstoffen in den verschiedensten Produktionsbereichen eingeht: Salz, Eisen, Holzkohle, Baustoffe, dazu Textilien, Leder und Pelze als wärmende Isolatoren, Leder insbesondere auch als widerstandsfähiges und verträgliches Material bei der Anspannung der Zugtiere. Zu Seite 300, dem angeblich frühesten Beleg von Gusseisen 1294 in Rouen, sei eine Ergänzung erlaubt: Mathieu Arnoux verweist auf die Herkunft der dort genannten gueuses de fer (Barren von Roheisen) aus dem Rheinland. Das führt zu der bislang unbeachteten frühesten Darstellung eines zweistufigen Verfahrens in der Eisengewinnung, abgesehen von den archäologischen Erkenntnissen, die östlich des Rheins bis in die Mitte des 13. Jahrhunderts zurückweisen. Albertus Magnus hatte in Köln um 1250 offensichtlich Kontakt zu Eisenleuten dieses Gebiets. Seine genaue Schilderung des zweistufigen Prozesses in der Eisenverhüttung (in Alberts Kommentar zur »Meteorologie« des Aristoteles 4.2.9) liefert endlich auch eine schriftliche Bestätigung1.
Ansonsten ist festzuhalten, dass Mathieu Arnoux in fast allen Kapiteln seines neuen Buches an Aspekte anknüpft, die in den verschiedenen Versionen des »Roman de Renart« angesprochen sind. Sie bilden gleichsam den Leitfaden dieses nicht immer leicht zu lesenden, aber höchst anregenden Buches. Es kommt aus der Mitte eines CNRS-Laboratoriums, wo der Autor seit zehn Jahren in engem Austausch mit Biologen und Physikern steht, im Fokus Probleme des Überganges zu einem neuen Energiesystem. Auch das Vorwort des in Paris und den USA forschenden Jesuitenpaters Gaël Giraud verweist auf diese laufenden Entwicklungen. Der »Roman de Renart« mit seinem offenen Hass auf die Zisterzienser und Dörfler, die den Lebensraum der Tiere einengen (S. 19), klingt für Mathieu Arnoux wie ein fernes Echo aus der ökologischen, ökonomischen und demografischen Krise der Jahre 1180–1210.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Dietrich Lohrmann, Rezension von/compte rendu de: Mathieu Arnoux, Un monde sans ressources. Besoin et société en Europe (XIe–XIVe siècles), Paris (Albin Michel) 2023, 361 p. (L’évolution de l’humanité), ISBN 978-2-226-47758-3, EUR 22,90., in: Francia-Recensio 2023/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.2.96703