(1.0) Nach einem einführenden Text von Dominique Poirel, den die Herausgeber dem ganzen Band zweisprachig voranstellen (D. Poirel, An International Revival of Victorine Studies. Introduction to the Volume, S. 11–20; ders., Un renouveau international des études victorines. Introduction au volume, S. 21–30), gliedert sich dieser neue Sammelband über das philosophische und theologische Profil der Augustinerchorherren der Pariser Abtei Saint-Victor in drei thematische Bereiche.

(1.1) Der erste Teil versammelt unter dem Titel »Magister Hugo« eine Reihe von Studien, die unter anderem den markanten theologischen Kopf aufscheinen lassen, der den jungen Sachsen, Hugo aus Hamersleben bei Halberstadt, offensichtlich kennzeichnete. Im Einzelnen handelt es sich um die Untersuchungen von A. Kijewska, John Scottus Eriugena and Hugh of Saint Victor: Readers of the Book of Nature and the Book of Scripture (S. 33–62); M. Rainini, Causa omnium homo. Ugo di San Vittore e la nuova antropologia: fra monaci e canonici sulle due rive del Reno (S. 63–93); C. Giraud, L’école de Saint-Victor, l’humanisme et la »Renaissance du XIIe siècle«: autour du livre I du »De vanitate rerum mundanarum« d’Hugues de Saint-Victor (S. 95–113); I. van’t Spijker, Non querat extra se, qui haec propter se facta credit. Hugh of Saint-Victor’s Pedagogy (S. 115–126); P. Mercury, L’amour selon Hugues de Saint-Victor: la nature comme voie vers le salut (S. 127‑142).

(1.2) Teil 2 dieses Bandes ist überschrieben mit »Disciples«. Die hier versammelten Abhandlungen lassen demnach Studien über die vielgestaltige Schülerschaft viktorinischer Lehrer in Bezug auf ihre Hörer erwarten. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Beiträge: D. Bray, Richard’s Trinitarian Argument in De Trinitate: An Analytic Overview (S. 145–166); M. Leyra-Curia, Andrew’s in hebreo Interpretations as a Fuller Version of Some Notes in Hugh’s Commentary on the Octateuch, Samuel and Kings (S. 167–184); F. van  Liere, The Date of Andrew of Saint-Victor’s Commentaries on the Prophets, and the Curious Case of MS Mazarine (S. 185‑197); A. Pistoia, Scripture and Liturgy, an Exclusive Means to Understand the Church (S. 199–213); A. Sordillo, Speculator castrorum Dei, Philosophy and Theology in Godfrey of St Victor’s Sermons (S. 215‑225); M. Vernet, Les sermons in generali capitulo d’Absalon de Saint-Victor: réflexions sur la prédication victorine de la fin du XIIe siècle (S. 227–243); C. Schabel, Radices et plantationes theologicae facultatis hic Parisius. The Biblical Principia of Pierre Leduc and Henri le Boulangier and the Victorine Tradition during the Great Schism (S. 245–326).

(1.3) In einer dritten Abteilung haben die Herausgeber Beiträge zusammengestellt, die den Spuren viktorinischer Intellektualität bis ins späte Mittelalter nachgehen, wobei sich der Unterschied zwischen »Disciples« und »Influences« erst nicht von selbst erklärt. Vermutlich wollen die Bandherausgeber den Grad und die Formen der »Influences« in der dritten Gruppe von Beiträgen unterstreichen. Trotzdem, die nachfolgenden Artikel eröffnen einen anregenden Ausblick, auch wenn hier nicht jeweils von einem eindeutigen Lehrer-Schüler-Verhältnis im mediävistischen Verständnis gesprochen werden kann: C. J. Mews, An English Response to Victorine Thought: Odo’s Ysagoge in theologiam (S. 329–341); M. Mocan, Il pensiero vittorino e le origini della letteratura romanza: il caso dei trovatori (S. 343–356); B. T. Coolman, Masters, Mystics, & Ministers in the Medieval City (S. 357‑373); J. Narchi, Der mystische Abstieg von der Kontemplation in die Aktion nach Hugo, Achard und Richard von St. Viktor und dessen franziskanische Rezeption im langen 13. Jahrhundert (S. 375‑412); G. Silvana Elías, La influencia de Ricardo de San Víctor en la noción de persona de Duns Escoto (S. 413–422); M. J. Janecki, Saint-Victor et le Carmel: le cas de Thomas de Jésus (1563–1627) (S. 423–442); W. Bajor, M. J. Janecki, Victorina polonica: présences victorines dans la culture intellectuelle de la Pologne au Moyen Âge et aujourd’hui (S. 443–470); M. Gogacz, Appendice: La philosophie de l’être d’après le Beniamin Maior de Richard de Saint-Victor (S. 471–484).

(1.4) Zu allerletzt entfaltet ein »Épilogue« eine abschließende Reflexion über den wissenschaftlichen Gegenstand aller Beiträge zu diesem Band: »Qu’est-ce que Saint-Victor?« (S. 487–511). Mit der Ausarbeitung dieser Frage schließt der spiritus rector D. Poirel die hier zu besprechende Publikation einer ganzen wissenschaftlichen Community im Umkreis der Pariser Abtei Saint-Victor ab. Auf diesen »Épilogue« folgen die vielsprachig gehaltenen Abstracts (S. 513–521) sowie die alphabetische Liste der Autoren jeweils samt einer Kurzbiografie (S. 523–528). Zwei Register (Handschriften sowie Werk- und Personennamen) runden die Publikation ab (S. 531–547).

(2.0) Im Detail besehen, springt ins Auge, dass dieser Band kaum eine Abhandlung zur viktorinischen Liturgie bzw. zu den liturgischen Handschriften der Pariser Abtei enthält. Andrea Pistoia untersucht in seinem Beitrag (siehe oben 1.2) Aspekte der viktorinischen Theologie der Liturgie, nicht jedoch Form und Inhalt der Liturgie selbst. Vordergründig handelt es sich bei diesem Beitrag um eine literar-dogmengeschichtliche Untersuchung des anonymen »Speculum ecclesiae«.

Ähnlich findet sich kaum eine bibliotheksgeschichtliche Untersuchung, abgesehen von denjenigen Frans van Lieres (S. 185‑197) und Chris Schabels (S. 245–326). Der offensichtliche Mangel an theologie- und an kirchengeschichtlichen Themen in dem vorliegenden Werk dürfte, als spezifisches Merkmal, nicht bloß der Viktorinerforschung anzulasten sein. Er erklärt sich wohl eher als Zeichen der Zeit.

(2.1) Der hochinteressante Text von Montse Leyra (siehe oben 1.2) würde noch weiteres Interesse auf sich ziehen, wenn die Autorin die editio historica von Hugos Kommentar zum Heptateuch und zu den Büchern der Könige ihrem eigenen Vorgehen zugrunde legte. Hugos Kommentar ist nämlich vor einiger Zeit schon im Corpus Victorinum, Textus historici, Bd. 3, Münster 2017, S. 167‑313 erschienen (siehe unten 3.2).

(2.2) Im Kreis der hier versammelten geistesgeschichtlichen Abhandlungen fällt auf, dass nicht nur die bibliotheksgeschichtlichen Grundlagen einer solchen Vorgehensweise kaum zur Sprache kommen. Auch die im weiteren Verständnis grundstürzenden biblisch-exegetischen Arbeiten, wie diejenigen Matthias M. Tischlers aus dem Hugo von Sankt Viktor-Institut (Die Bibel in Saint-Victor zu Paris. Das Buch der Bücher als Gradmesser für wissenschaftliche, soziale und ordensgeschichtliche Umbrüche im europäischen Hoch- und Spätmittelalter, Münster 2013 [Corpus Victorinum. Instrumenta, 6]), finden in diesem Band beispielsweise keinerlei Erwähnung.

Es ist also umso notwendiger zu unterstreichen: Die Mediävistik unserer Tage und der nächsten Forschergeneration verlangt nach der methodischen und thematischen Einbeziehung möglichst vieler Disziplinen, möglichst vieler Methoden und Ziele, wenn sie sachlich möglichst vollständig sein will. So gesehen, würde praktische Multidisziplinarität in diesem wissenschaftlichen Kontext eine starke methodische Eigenart darstellen.

(2.3) Im »Épilogue« verweist D. Poirel auf drei markante Bereiche, die das Leben der Kanoniker von Saint-Victor kennzeichnen:

- An vorderster Stelle seien dabei »Schule und Abtei« zu nennen, sie bilden sozusagen den Rahmen dessen, was viktorinisches Leben von Beginn an ausmacht (S. 488–499).

- Daran würde sich die Darlegung viktorinischer Lebensweise anschließen, nämlich »Enzyklopädischer Humanismus und christliche Weisheit«, sozusagen das »viktorinische Programm« (S. 499–505).

- Den letzten Bereich, der die Lebensweise der Kanoniker von Saint-Victor charakterisiert, betitelt D. Poirel mit »Kleriker und Magistri: viktorinischer ›Geist‹« (S. 505–510).

(2.4) Zwei letzte Aspekte könnten, vielleicht bei Gelegenheit in einer wie auch immer gearteten Neuauflage dieses Epilogs, zur Sprache gebracht werden:

- Wie steht es um die Herkunft der Pariser Abtei Saint-Victor von ihrem massilianischen Vorbild? Anders gefragt: Was wissen wir heute von den hugonischen Ursprüngen und Kontexten im fernen Sachsen, über Hugos Umweg nach Marseille, und von dort aus zurück an die Seine?

- Wie steht es um die Zukunft des kanonikalen Entwurfs in Paris? Hatte dieser im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit angesichts neuer religioser Gemeinschaften eine Zukunft?

(3.0) Die Herausgeber des hier zu besprechenden Buches breiten vieles von dem aus, was man gegenwärtig über die Schule sowie über die Abtei Saint-Victor in Paris im Mittelalter und bis zur Frühen Neuzeit wissen kann. Erstaunlicherweise kommen dazu begleitend manch andere, weiterführende Arbeiten nicht zur Sprache, sodass das entworfene wissenschaftliche Bild von Saint-Victor unklar wird. Um dieses bis hierher skizzierte wissenschaftliche Bild zu ergänzen, seien deshalb exemplarisch einige neuere Textausgaben und Abhandlungen aus dem Frankfurter Hugo von Sankt Viktor-Institut ergänzend zur Sprache gebracht.

(3.1) In dem einführenden Text D. Poirels (siehe oben 1.0) werden selbstverständlich die federführenden Aktivitäten des Pariser Institut de recherche et d’histoire des textes auf diesem Feld erwähnt. Bedauerlicherweise kommt darüber hinaus das Frankfurter Hugo von Sankt Viktor-Institut samt seinem spezifischen Ansatz im Bereich lateinischer Textausgaben des Mittelalters nicht oder nicht adäquat zur Sprache (siehe S. 15 bzw. S. 25).

(3.2) Primär sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass Band 1 der Gilduin-Ausgabe der Werke Hugos (Hugonis de Sancto Victore operum Editio auspiciis Gilduini abbatis procurata et IV voluminibus digesta Novissime vero a Rainero Berndt restituta, Bd. 1, ed. Rainer Berndt, José Luis Narvaja, Münster/West. 2017 [Corpus Victorinum. Textus historici, 3]) in dem hier zu besprechenden Band nur selten rezipiert wird, was erstaunlich ist.

(3.3) Weiterhin wurden in derselben Reihe der »Textus historici« des »Corpus Victorinum« die Frühwerke des Johannes von Thoulouze († 1569) ediert, nämlich seine »Commentaria rerum pene omnium in domo nostra Victorina« (ed. Anette Löffler, Rainer Berndt, Münster/Westf. 2017 [Textus historici, 4]). Der Band mit der »Congregatio Victorina« des Johannes von Thoulouze (ed. Rainer Berndt in Zusammenarbeit mit Anette Löffler und Karin Ganss [Corpus Victorinum. Textus historici, 5]) befindet sich in der Drucklegung.

(3.4) Darüber hinaus hat José Luis Narvaja seine Monografie, eine Frankfurter Habilitationsschrift, über die Rezeption der Kirchenväter in den Werken Hugos von Saint-Victor im Jahre 2018 in Buenos Aires veröffentlicht (Describe tibi haec tripliciter... Estudio sobre la recepción de los Padres de la Iglesia en el entorno de la Abadía parisina de San Víctor [ediciones del Instituto Thomas Falkner]). Dieser Band analysiert, anhand einiger Editionsbeispiele, welche methodisch-theoretischen Schwierigkeiten moderne Editoren zu gewärtigen haben, wenn sie sich von vorneuzeitlicher lateinischer Literatur wissenschaftlich motivieren lassen.

(3.5) In der Person von Karin Ganss hat vor einigen Jahren eine Mitarbeiterin des Hugo von Sankt Viktor-Instituts ihre Dissertation an unserer Frankfurter Hochschule vorgelegt, in der sie erstmals eine ausgewählte liturgische Handschrift der Viktoriner umfassend untersucht hat. Angezogen vom Interesse an der Geschichte des christlichen Kultes im Mittelalter hat die Autorin in den heute noch erhaltenen Handschriften der Kanoniker von Paris den Kodex gefunden, der nach einer grundlegenden Bearbeitung verlangt (Karin Ganss, Das Offiziumslektionar von Sainte Marie-Madeleine in Faronville bei Melun. Eine Studie zu Geschichte, Aufbau und Quellen der Handschrift latin 14281 in der Pariser Nationalbibliothek, Münster 2021 [Corpus Victorinum. Instrumenta, 8]). Es handelt sich um das älteste erhaltene Viktoriner Offiziumslektionar.

(3.6) Ralf M. W. Stammberger gilt seit langen Jahren als ausgewiesener Kenner von Hugos Werken. In seiner inzwischen abgeschlossenen Untersuchung hinsichtlich des Rätsels um Band 4 der Ausgabe der Werke Hugos durch den ersten Abt Gilduin von Saint-Victor hat Ralf Stammberger mindestens einen überzeugenden Vorschlag entwickelt, wenn nicht sogar die Lösung unterbreitet. Diese literar- und theologiegeschichtliche Untersuchung der Gilduin-Edition wurde im Frühjahr 2020 als schriftliche Dissertationsleistung vorgelegt (Trostreiche Predigt. Überlieferung, Entstehung und Bedeutung des Liber sermonum Hugonis, Münster/Westf. 2023 [Corpus Victorinum. Instrumenta, 9/1–2]), inzwischen liegt sie im Druck vor.

(3.7) Die neueste einschlägige Abhandlung aus dem Hugo-Institut, die dogmengeschichtliche Arbeit von Tobias Völkl über die Lehre von der Eucharistie in Auseinandersetzung zwischen Hugo von Sankt Viktor und Petrus Lombardus, wird in Kürze in den Druck gehen (Tobias Völkl, Via Duce – Die Eucharistie in der Theologie des Petrus Lombardus [Corpus Victorinum. Instrumenta, 10]).

(4.0) Alles in allem bezeugt der vorzustellende Band die tiefen Kenntnisse heutiger Mediävistik auf dem Gebiet der Forschung zu den Denk- und zu den Lebensweisen der kanonikalen Pariser Abtei Saint-Victor.

(4.1) Dabei zeigt sich einmal mehr: Die Geschichte der Bibel im Mittelalter, das heißt die Geschichte ihres Textes, ihrer Auslegung und ihrer buchhaften Ausschmückung, sowie die Bibelexegese in Saint-Victor, das heißt die ganz individuell vom einzelnen mittelalterlichen Exegeten gewählte Exegese- und Rezeptionspraxis, nehmen einen enormen Raum in den intellektuellen Arbeiten der Kanoniker von Saint-Victor ein. In diesem Sinne belegt diese Publikation als solche, dass sich der Konvent der Chorherren von der ursprünglichen Intention seiner vita religiosa nicht hat abbringen lassen.

(4.2) Die Suche nach der Eigenart viktorinischen Denkens, nach seiner Intellektualität, nach seiner Bildung: diese Trias verstehen zu wollen, dies kündigt der Untertitel dieses Werkes als sein spezifisches Erkenntnisinteresse an, kurz »Thought and Influence«, Denken und Einflussnahme.

Das lateinische Zitat, das den Haupttitel bildet, haben die Bandherausgeber dem genauen Beginn des »Didascalicon« entnommen, Buch 1, Kapitel 1: Omnium expetendorum prima est sapientia in qua perfecti boni forma consistit. Sapientia illuminat hominem ut seipsum agnoscat. Aber es ist anzunehmen, dass Magister Hugo aus der Pariser Abtei Saint-Victor in einem derartigen Maß von den Worten der Heiligen Schrift durchdrungen war, dass er im Hintergrund dieses Textes dessen wahrscheinliche alttestamentliche Quelle gehört hat: et implevi eum spiritu Dei: sapientia, intellegentia, et scientia in omni opere (Ex 31,3). Die göttliche Gabe der sapientia erfüllt den Menschen in jedem seiner Werke derart, dass er diese als die Form des vollständig Guten wahrnimmt.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Rainer Berndt, Rezension von/compte rendu de: Wanda Bajor, Michal Buraczewski, Marcin Jan Janecki, Dominique Poirel (ed.), Omnium expetendorum prima est sapientia. Studies on Victorine Thought and Influence, Turnhout (Brepols) 2021, 547 p. (Bibliotheca Victorina, 29), ISBN 978-2-503-59650-1, EUR 100,00., in: Francia-Recensio 2023/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.2.96713