Vorliegender Sammelband ist aus einem Doktorandenkolloquium hervorgegangen, das Florentin Briffaz und Prunelle Deleville im Oktober 2019 an der Universität Lumière Lyon 2 veranstaltet haben. Im Fokus der Aufmerksamkeit soll das komplexe Zusammenspiel von Norm und Praxis im historischen Wandel stehen, wie dem einseitigen Vorwort der Herausgeber zu entnehmen ist (S. 7). Gleichsam schwingt im Titel mit, dass Familie nichts Natürliches ist, sondern etwas Gemachtes. Programmatisch leitet Paul Payan in das Thema ein (S. 9–17). Der Band schließt mit einer knappen Zusammenfassung der Beiträge durch Florentin Briffaz (S. 163–168), gefolgt von einem detaillierten Orts- und Personenregister (S. 177–187).

Der Sammelband ist in drei Sektionen unterteilt. In allen geht es ausschließlich um adlige Gruppen (Amtsadel, Hofadel, Hochadel etc.), das hätte im Buchtitel aufscheinen dürfen. Überdies schenken die meisten Beiträge der adligen Frau als genealogischem Scharnier oder Stellvertreter besondere Beachtung; auf diesen Aspekt wiederum hätte die Einleitung etwas ausführlicher eingehen können. Die erste Sektion widmet sich den »Vorstellungen der Modell-Verwandtschaft« mit Fokus auf das adlige Ehepaar (S. 21–64), die zweite der »Verwandtschaft jenseits der Norm« (die Vielweiberei der merowingischen Könige und adlige Bastardenkinder als mögliche Erben) mit dem etwas befremdlichen Untertitel »Legitimität und Illegitimität der Familienmodelle« (S. 65–101), während die dritte Sektion Fragen der »Filiation und Sukzession in der Laienaristokratie« nachgeht, in einem zeitlich und räumlich weitgespannten Rahmen vom 10. bis zum 15. Jahrhundert (S. 103–161). Nicht in allen Beiträgen werden die Normen konturiert, zu denen sich die Praxis auf die eine oder andere Weise verhält; die meisten Beiträge konzentrieren sich auf die Praxis, die ihre eigene Regelhaftigkeit entwickelt, die anderen Werten folgen kann als die Norm.

Paul Payans Ausgangslage sind 40 Jahre französischsprachiger Forschungsgeschichte, die er in drei Phasen unterteilt: Wissenschaftlich etabliert habe sich das Feld in den 1970‑1980er Jahren aus zwei verschiedenen Richtungen zugleich: einer sozialgeschichtlichen Ausrichtung, die eng mit Florenz und dem Namen Christiane Klapisch-Zuber verbunden sei, und den am klerikalen Imaginarium orientierten Arbeiten von Georges Duby (1919–1996) und seiner Pariser Forschergruppe. Neue Blicke auf die Quellen und Interdisziplinarität kennzeichneten die zweite Phase 1990–2000, in der sich Sammelbände vervielfachten und erste Handbücher entstanden seien. In den beiden letzten Dezennien, der dritten Phase, seien viele neue Themenfelder dazugekommen: Geschwisterbeziehungen, Gefühle, Bastarde etc. Auf die Ergebnisse dieser Studien, an die die Beiträge des Sammelbands anknüpfen, geht Payan mit keinem Wort ein. Es folgen vielmehr einige sehr allgemein gehaltene Bemerkungen zum Spannungsverhältnis von Norm und Praxis mit einem für die französische Forschung erstaunlich diffusen Praxisbegriff. Payan beendet seine Einleitung schließlich mit einem Exkurs zur Bedeutung der Bilder, mit denen sich im Band selbst einzig Justine Audebrand befasst (S. 123–144).

Bemerkenswert ist die Vielzahl der Räume und Praktiken, die der Sammelband in den Blick nimmt, den unterschiedlichen Quellen entsprechend, die den Analysen zugrunde liegen: die Kolophone in armenischen Büchern des 13. Jahrhunderts mit Kurzporträts ihrer hochadligen Auftraggeberinnen (S. 51–64), der Platz der Frau im portugiesischen Hofadel des zu Ende gehenden 14. bis zu Beginn des 16. Jahrhunderts, ausgehend von 977 genealogischen Individuen (S. 105–122). Die Vielzahl der Junggesellen, 48 Prozent, die dieses Milieu hervorbrachte, überrascht; sie überrascht aber nur, weil in dieser Hinsicht Vergleichsstudien fehlen.

Nicht alle Beiträge können an dieser Stelle einzeln gewürdigt werden. Aber es sollte aus meinen wenigen Bemerkungen deutlich geworden sein, dass sich die Lektüre des Sammelbandes lohnt, weil er viel Stoff zum Nachdenken bietet. Der Band ist allerdings nicht für ein internationales Publikum gedacht, sein Adressat ist ausschließlich die französische Forschung. Geht es um Familie, Ehe und Verwandtschaft, ist die Forschung spätestens seit den 90er Jahren international geworden. Das bilden weder Einleitung noch Anmerkungen ab.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Gabriela Signori, Rezension von/compte rendu de: Florentin Briffaz, Prunelle Deleville (dir.), Faire famille au Moyen Âge, Lyon (CIHAM-Éditions) 2022, 190 p. (Mondes médiévaux, 7), ISBN 978-2-9568426-6-8, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2023/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.2.96717