Der neue Band von Cecilia Gaposchkin widmet sich der Liturgie und den Reliquien in der Sainte-Chapelle in der Herrschaftszeit Ludwigs des Heiligen (gest. 1270) und seiner direkten Nachfolger. Er umfasst neben einer Analyse der Überlieferung und ihrer thematischen Varianten die Edition und Übersetzung der Liturgien der Sainte-Chapelle für den 11. August (Ankunft der Dornenkrone) und 30. September (Ankunft der heiligen Reliquien), jeweils mit den Texten der Sequenzen und Lesungen für die ganze Oktav sowie mehreren Anhängen zur handschriftlichen Überlieferung. Mit dieser Zusammenstellung vertieft die Historikerin zum einen ihren eigenen Forschungsschwerpunkt zu Ludwig dem Heiligen (v. a. »The Making of Saint Louis: Kingship, Sanctity, and Crusade in the Later Middle Ages«, 2008).
Zum anderen ordnet sich das Buch in eine ganze Reihe neuerer historischer, kunsthistorischer und liturgiewissenschaftlicher Arbeiten zur Sainte-Chapelle ein, in denen, beginnend mit der Dissertation von Judy Taylor (»Rhymed Offices at the Sainte-Chapelle in the Thirteenth Century«, 1994), auch wichtige liturgische Textzeugnisse ediert und analysiert wurden. Die jüngst erschienene Studie von Yossi Maurey (»Liturgy and Sequences of the Sainte-Chapelle: Music, Relics, and Sacral Kingship in Thirteenth Century France«, 2021) bezieht dabei explizit auch die musikalischen Traditionen mit ein, die bei Gaposchkin außer Acht gelassen werden. Außerdem bietet auch Maurey in seinen Appendizes englische Übersetzungen der Sequenzen und Lesungen für das Fest der Dornenkrone.
Der Ausschnitt der liturgischen Tradition der Sainte-Chapelle, den die Verfasserin hier präsentiert, bezieht sich auf die Ankunft der Hauptreliquien in Paris bzw. im Pariser Raum, insbesondere auf die beiden Reliquienfeste am 11. August (Translatio sancte corone Domini) und am 30. September (De sacrosanctarum reliquiarum). Diese Begrenzung lässt sich damit erklären, dass nur für wenige spezifische Feste eigene Liturgien der Sainte-Chapelle produziert wurden, während der Großteil der liturgischen Praxis den Gewohnheiten und dem Kalender der Pariser Kirche folgte. Insgesamt wäre eine stärkere Einbeziehung der Liturgie der Pariser Kathedrale Notre-Dame, in deren Pfarrei die Sainte-Chapelle lag und als deren Pfarrkinder sich die französischen Könige im Spätmittelalter verstanden, wünschenswert gewesen. Da auch hier, ähnlich wie bei der Sainte-Chapelle, keine vollständigen Editionen der liturgischen Texte vorliegen, lassen sich manche Beobachtungen der Verfasserin nur schwer nachvollziehen.
Verständlich ist, dass sich ihr besonderes Augenmerk auf diese beiden Reliquienfeste richtet, da sich Gaposchkin als Historikerin für deren herausragende Bedeutung bei der sakralen Inszenierung der Herrschaft Ludwigs des Heiligen interessiert. Insbesondere die Dornenkrone spielte schon zu Lebzeiten Ludwigs und noch einmal bei seiner Heiligsprechung 1297 eine zentrale Rolle, wie die Forschung nicht erst seit der fundamentalen Biografie Jacques Le Goffs (»Saint Louis«, 1996) erkannt hat. Erst kürzlich wurde dieses Thema noch einmal monografisch in allen Facetten ausgeleuchtet (Jerzy Pysiak, »The King and the Crown of Thorns. Kingship and the Cult of Relics in Capetian France«, 2020), sodass die entsprechenden Passagen im vorliegenden Band (insbes. S. 57–81) wenig Neues bieten. Stärker als in der bisherigen Forschung wird der Beitrag der Pariser Dominikaner zum liturgischen Alltag in der Sainte-Chapelle berücksichtigt. Die von Ludwig dem Heiligen stark geförderten Mendikanten übernahmen einen wichtigen Teil der Seelsorge im Palast und der Offizien in der Palastkapelle (S. 79f.).
Etwas weniger präsent sind in der Forschung die weiteren Reliquienschenkungen Ludwigs an die Sainte-Chapelle. Neben der Dornenkrone, die bereits 1239, mithin vor dem Bau der neuen Palastkapelle (geweiht 1248), über venezianische Kaufleute aus Konstantinopel erworben werden konnte, ließ sich der König weitere höchst bedeutsame Reliquien aus der Pharoskapelle in Konstantinopel aushändigen, die der Erhöhung der neuen Sainte-Chapelle dienten. Die insgesamt 23 Reliquien, darunter ein großer Kreuzessplitter, Milch Mariens, die Heilige Lanze oder das in Byzanz stark verehrte Schweißtuch der Veronika (Mandylion), lösten große öffentliche Aufmerksamkeit und eine überregionale Wallfahrt zu der neuen Kapelle aus. Das enorme symbolische Kapital dieses Schatzes für die Rolle von Paris als führender christlicher Metropole der lateinischen Welt bleibt außerhalb der Betrachtung der Studie.
Die Analyse der liturgischen Texte zeigt eine große Kohärenz zum Bildprogramm der Glasfenster der Sainte-Chapelle und zu überlieferten Predigten des 13. und 14. Jahrhunderts, in denen typologische Bezüge zwischen den Königen des Alten Testaments, der Krone Christi und den gekrönten Herrschern Frankreichs, insbesondere Ludwig dem Heiligen, hergestellt und vielfältig variiert wurden. Die Beobachtung, wie dabei die liturgische Tradition der Sainte-Chapelle, die sich in Paris und der Île‑de‑France weiter verbreitete und in Sens, wo die Dornenkrone 1239 zuerst in Empfang genommen wurde, einen eigenen Traditionsstrang ausbildete, selbst höchst variabel mit diesem Thema umging, wird durch die Edition (S. 201–312) in ein helles Licht gerückt. Abstriche muss man leider bei der Bibliografie machen (S. 313–334), wo wichtige Werke vergessen werden, gedruckte Quellen (»Printed Sources«) und Forschungen (»Studies«) wild durcheinander gehen und zwischen Autorinnen und Autoren und Herausgeberinnen und Herausgebern nur sporadisch unterschieden wird.
Auch wenn insgesamt wenig neue Erkenntnisse geboten werden können, so vermittelt gerade die englische Übersetzung der liturgischen Texte zu den beiden wichtigen Reliquienfesten einem breiteren Leserkreis Zugang zu einem oft unterschätzten Genre, das im Vergleich zu historiografischen, homiletischen oder ikonografischen Zeugnissen durchaus eigenständige Beiträge bei der sakralen Inszenierung des kapetingischen Königtums leistete.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Jörg Oberste, Rezension von/compte rendu de: Cecilia Gaposchkin (éd.), Vexilla Regis Glorie. Liturgy and Relics at the Sainte-Chapelle in the Thirteenth Century, Paris (CNRS Éditions) 2022, 352 p. (Sources d’histoire médiévale, 46), ISBN 978-2-271-14332-7, EUR 65,00., in: Francia-Recensio 2023/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.2.96751