In Frankreich, wo man bis zur Französischen Revolution stolz darauf war, »älteste Tochter der Kirche« (la fille aînée de l’Église) zu sein, wurden viele Heilige verehrt, deren Herkunft im Heiligen Land zu suchen war. Einige von ihnen waren dort gar in Nahkontakt zu Christus selbst getreten. Zu ihnen gehörte Restitutus, der von Jesus geheilte Blindgeborene (Joh. 9,1–38). Der Name ist ungewöhnlich und verweist auf das von Christus an ihm bewirkte Wunder: die Wiederherstellung (restitutio) der Sehkraft. Restitutus gehört zum Kreis der Heiligen um Maria Magdalena, Lazarus und Martha, die in Palästina von christenfeindlichen Juden in ein Schiff ohne Steuer und Segel gesetzt und dem Meer überantwortet worden sein sollen. Wohlbehalten erreichten sie die Provence und gingen dort einer weitgespannten Evangelisierungstätigkeit nach. Restitutus soll zum ersten Bischof des Bistums Saint-Paul-Trois-Châteaux (Augusta Tricastinorum) ernannt worden sein, des mit nur 36 Pfarreien wohl kleinsten Bistums Frankreichs. 77 Bischöfe standen dort bis zur Auflösung 1791 an der Spitze. In einem Nachbarort von Saint-Paul-Trois-Châteaux befindet sich noch heute die ihm geweihte Kirche, in der seine Reliquien verehrt wurden.

Michel Ginet widmet sich in seiner schmalen Monografie den grundlegenden Elementen der Legende um Restitutus, dessen Fest (dies natalis) am 7. November gefeiert wird (erst später kam mit der am 10. April gefeierten inventio reliquiarum ein zweiter Festtag hinzu). Welch historiografisch glückliche Fügung, dass der Heilige so gerade noch Aufnahme in das Großunternehmen der »Acta sanctorum« finden konnte, deren bisher letzter, 1910 erschienener Band (»Novembris«, tomus III) das Material um Restitutus zuverlässig aufarbeitet. Es ist Grundlage und Ausgangspunkt aller weiteren Forschungen, auch derjenigen Ginets. Vorliegende Arbeit ist chronologisch fortschreitend in fünf große Abschnitte gegliedert. Nach einem Blick auf den historischen Kontext (I. »Contexte«) wird eine heute verlorene Handschrift von 1249 behandelt, in der sich erste Angaben zu Restitutus und der Translation seiner Überreste finden lassen (II. »Le ›manuscrit‹ de 1249«). Der Verweis auf diese Handschrift findet sich nicht in einem 1465 verfassten Bericht, geprägt von mancherlei Inkohärenzen und Ungenauigkeiten, über die erneute Auffindung der Reliquien (III. »L’invention des reliques de 1465«), dafür jedoch im Translationsbericht von 1516 (IV. »La translation des reliques de 1516«). Als grundsätzlich problematisch ist dabei die Tatsache zu werten, dass keiner der drei Texte im Original überliefert ist. Alle finden sich in einem vom Dominikaner Louis‑Anselme Boyer de Sainte-Marthe 1710 im Druck herausgegebenen Band mit dem Titel »Histoire de l’église cathédrale de Saint‑Paul‑Trois‑Châteaux«.

Ginet geht ausgesprochen leserfreundlich vor und beginnt jedes Kapitel mit einer inhaltlichen Zusammenfassung des jeweiligen Berichts, an die sich profunde Bemerkungen zum historischen und religiösen Kontext anschließen. Konkret heißt dies, dass sämtliche Sachverhalte und Personen, die in den jeweiligen Dokumenten genannt werden, einer eingehenden Betrachtung und Analyse unterzogen werden. Vieles erfährt man so etwa zu den Bischöfen, zur Zusammensetzung der jeweiligen Kathedralkapitel, aber auch zu den liturgischen Verfügungen. Alle in den Texten vorkommenden liturgischen Fachtermini – von der Missa cum septem collectis über das Officium tenebrarum bis hin zum Te Deum – werden kompetent erläutert.

Strittige Sachverhalte und Widersprüche bleiben nicht unerwähnt – Lösungsversuche werden aber stets klar als solche benannt. Insbesondere der Bericht von 1465 weist eine Fülle von Widersprüchen auf, was frühere Editoren der »Gallia Christiana Novissima« und der »Acta Sanctorum« zu der Aussage veranlasste, hierbei müsse es sich um eine Fälschung handeln: »C’est un faux!« Ganz so weit möchte Ginet nicht gehen, auch wenn er selbst weitere wichtige Argumente prosopografischer Natur liefert, die diese Fälschungsthese stützen. Wichtig ist ihm die Tatsache, dass nur 40 Jahre nach den Ereignissen von 1465 in einem Diözesanbrevier (heute: Médiathèque communautaire Haut-Jura Saint-Claude, ms. 14) auf die inventio Bezug genommen wird: »Tout n’est peut-être pas faux dans l’acte de 1465« (S. 80). Formuliert wird die Hypothese der réécriture eines heute verlorenen Textes, entstanden aus dem Bedürfnis heraus, ad majorem Dei Restitutique gloriam einen Text zu (re)konstruieren, von dessen Existenz die Redaktoren unwidersprochen ausgingen. Diese réécriture wiederum wird als »faux sincère« charakterisiert: zuverlässig bei der Beschreibung des inhaltlichen Kerns, d. h. der inventio selbst, aber überwuchert von Elementen, die sich erst später anlagerten und von dem Bedürfnis bzw. der Phantasie der Schreiber zeugen, die Existenz des Bistums möglichst weit in die Vergangenheit zurückzudatieren.

Eine vollständige französische Übersetzung der Berichte findet sich am Ende jeden Kapitels, der Abdruck des zugrunde liegenden lateinischen Textes im Anhang, der weiteres wertvolles Quellenmaterial bereithält, so etwa die Auflistung aller einschlägigen Notariatsinstrumente für den Zeitraum von 1460 bis 1477. Ein eigenes Kapitel ist nicht nur der Frage gewidmet, wo sich das Grab mit den Reliquien des Heiligen innerhalb der Kirche Saint-Restitut befunden, sondern auch welches äußere Erscheinungsbild dieses Grab (bzw. Grabmonument) gehabt haben könnte.

Das Latein der drei Texte, besonders dasjenige der Urkunde von 1465, wird treffend als »fort lourd et quelque peu ampoulé« (S. 31) charakterisiert. Ob die Entscheidung wirklich richtig war, die französische Übersetzung an diesem Latein in Stil und Syntax auszurichten, mag jeder Leser für sich entscheiden. Dankbar ist man immerhin dafür, dass allzu mäandernde lateinische Satzgebilde mit ihrer Fülle an untergeordneten Nebensätzen, deren logischer Zusammenhang wohl auch dem Kopisten nicht mehr klar war, in der französischen Version aufgebrochen und mit einer etwas kleinteiligeren Interpunktion versehen wurden.

Das letzte Wort zur Akte Restitutus ist sicherlich noch nicht gesprochen. Genanalysen mögen in Zukunft ebenso erhellend wirken wie weitere archäologische Grabungen. Derzeit wird man dem Autor aber zustimmen dürfen, »que l’histoire des reliques de saint Restitut reste encore énigmatique pendant quelque temps« (S. 142).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Ralf Lützelschwab, Rezension von/compte rendu de: Michel Ginet, L’énigme des reliques de saint Restitut. Analyse critique des éléments fondateurs de la légende, Mercurol-Veaunes (Éditions François Baudez) 2022, 188 p. (Au fil du Rhône, 35), ISBN 978-2-84668-709-6, EUR 20,00., in: Francia-Recensio 2023/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.2.96752