Das anzuzeigende Buch – die Originalversion erschien 2020 unter dem Titel »Ravenna. Capital of Empire, Crucible of Europe« – wurde von der Forschung größtenteils sehr positiv aufgenommen. Diesem Urteil kann sich der Rezensent nur anschließen. Wenn die Verfasserin den Fokus nicht so sehr auf die Präsentation neuer Forschungsergebnisse legt, sondern eher auf die Sichtung und vor allem: das Sichtbarmachen des vielfältigen Wissens über eine zentrale spätrömische Metropole, dann liegt gerade darin die Stärke des Buches. Das schillernde Panorama, das Judith Herrin von gut fünfhundert Jahren Stadtgeschichte entwirft, ist deshalb nicht nur in zahlreichen Fachrezensionen gewürdigt worden, sondern auch von internationalen Tageszeitungen, was bei mediävistischen Sachbüchern – leider! – nicht allzu häufig vorkommt: so etwa in der italienischen »Repubblica«, der deutschen »F.A.Z.« oder der britischen »Financial Times«. Es ist daher nur zu begrüßen, dass nun auch eine deutsche Übersetzung vorliegt.
Im Gegensatz zu den bisherigen Referenzwerken zu Ravenna – genannt seien hier stellvertretend »Ravenna in Late Antiquity« von Deborah Mauskopf Deliyannis (2010) und die monumentale Untersuchung »Ravenna. Hauptstadt des spätantiken Abendlandes« von Friedrich Wilhelm Deichmann (1969–1974; vier Bände) – stehen bei Judith Herrin nicht die Bauten und Kunstschätze der Adria-Metropole im Vordergrund. Wenngleich auch Herrin ausführlich auf die wichtigsten Kunstdenkmäler eingeht, geht es ihr doch in erster Linie um den historischen Kontext, dem diese ihre Entstehung verdanken. In einer persönlich gehaltenen Einführung lässt sie die Fragen Revue passieren, die ihr auf einer Autofahrt nach einem Ravenna-Besuch durch den Kopf gingen: »Weshalb gibt es die unvergleichlichen Mosaiken von Ravenna, und wie lässt sich erklären, dass sie die Zeiten überdauert haben?« (S. 18) Dabei ist Herrins Ravenna-Buch, wiewohl mit der Absicht geschrieben, hierauf Antworten zu finden, mehr als nur die Geschichte einer Stadt. Weil es oft auswärtige Mächte waren, die Ravennas Geschick bestimmten – Römer, Ostgoten, Byzantiner, Langobarden, Franken, indirekt auch die Araber –, beabsichtigt Herrin »eine viel größer angelegte Darstellung der unterschiedlichen Kräfte und Mächte, die hier gebündelt wurden und Ravenna zum Schmelztiegel Europas machten« (S. 27). Ein Faszinosum ist Ravenna für Herrin aber auch deshalb, weil es eine der wenigen Städte des römischen Westens war, die in der poströmischen Zeit keinen Niedergang erlebten, sondern regelrecht florierten.
Herrin teilt ihr Buch in neun große Kapitel, die den Zeitraum von 402 bis 814 abdecken, also von der Verlegung der weströmischen Kaiserresidenz unter dem jugendlichen Kaiser Honorius und seiner Halbschwester Galla Placidia bis zum Tod Karls des Großen, der Ravenna gemeinsam mit dem Langobardenreich seiner Herrschaft eingliederte (S. 44–453). Die Kapitel sind ihrerseits in kürzere Abschnitte unterteilt. Positiv hervorzuheben ist, dass Herrin nicht nur auf narrative Quellen eingeht – erwartungsgemäß kommt der geschichtsschreibende Priester Agnellus oft zu Wort –, sondern auch immer wieder Papyri der städtischen Verwaltungsbehörden auswertet, die sehr interessante Einblicke in den wirtschaftlichen Alltag der Stadtbewohner geben und der Erzählung zusätzliches Kolorit verleihen.
Zum Schluss gibt Herrin einen knappen, aber gekonnten Überblick über die Faktoren, die ihrer Meinung nach für die Prosperität Ravennas und auch für die Häufung an Kunstschätzen verantwortlich waren (S. 454–468). Zuvorderst dürfte sicher die geschützte Lage der Stadt eine zentrale Rolle gespielt haben, was ja für die Verlegung der Kaiserresidenz überhaupt erst den Ausschlag gegeben hatte. Herrin vermutet, dass diese Entscheidung Stilicho († 408) zu verdanken ist, dem begabten Heermeister des Kaisers Honorius. Die Verfasserin hebt neben dem baulichen Engagement weltlicher Herrscher (v. a. Galla Placidia, Theoderich oder Justinian I.) auch die vielfältigen Aktivitäten der örtlichen Bischöfe hervor, die seit dem Jahr 546 den Rang von Metropoliten innehatten. Mehr als jeder andere hätten die Bischöfe die Bildung einer kollektiven Identität der Bürger von Ravenna vorangetrieben. Herrin spricht in diesem Zusammenhang etwas anachronistisch von einer »civic religion«, was in der Übersetzung vorsichtiger mit »bürgerliche Form der Frömmigkeit« (S. 456) wiedergegeben ist.
Die Übersetzung ist flüssig lesbar und gibt den lebhaft-ansprechenden Stil des Originals sehr gut wieder (ein kursorischer Abgleich mit dem Original zeigte, dass die deutsche Übersetzung vereinzelt sogar Abschnitte enthält, die in der Originalausgabe augenscheinlich gekürzt wurden, vgl. S. 451f.). Wie bei einem Werk dieses Umfangs kaum zu vermeiden, ist es allerdings zu einigen kleinen Versehen gekommen, die die Gesamtleistung zwar nicht wesentlich schmälern, bei einer Neuauflage aber unbedingt berichtigt werden sollten: S. 94 wird eine Vigil, die Papst Leo im Beisein von Valentinian III. feierte, mit »Mahnwache« übersetzt; S. 125 wird die Verehrung, die Kaiser Leon I. und seine Frau Verina der Muttergottes entgegenbrachten, mit »Anbetung« wiedergegeben (»vor ihr knieten und sie anbeteten« steht in der Übersetzung, wohingegen es, theologisch korrekt, im Original heißt: »kneeling before her in veneration«).
S. 187 heißt es in der Übersetzung, dass »die Bischöfe von Rom, einschließlich Papst Vigilius (537–555), alle in Chalkedon getroffenen Entscheidungen als Bedrohung des wahren Glaubens und der päpstlichen Autorität« betrachtet hätten (auch auf S. 188 findet sich eine Formulierung im Sinne dieses Missverständnisses). Dabei ist es genau umgekehrt. Anlass des Dreikapitelstreites war ja gerade, dass der Papst – und eine große Menge weiterer Kleriker – Justinians Verurteilung der Drei Kapitel als einen Angriff auf das Konzil von Chalkedon und damit auch auf die Autorität Leos des Großen verstanden hatten. Dementsprechend heißt es im Original: »Bishops of Rome, including Pope Vigilius (537–555), therefore considered anything that modified the decisions taken at Chalcedon as threatening to the true faith, and against papal authority.« Auf S. 325f. suggerieren die Formulierungen im Deutschen, dass Bischöfe ein regelmäßiges »Einkommen« gehabt hätten, so wie heute Angestellte oder Beamte. Tatsächlich handelt es sich bei den »incomes«, die mit einem Bistum verknüpft waren, nicht um geregeltes Einkommen oder Gehälter im modernen Sinn, sondern um Einkünfte, die die Ländereien dieses Bistums abwarfen; »a richer see« ist daher nicht: »eine besser bezahlte Stelle«.
Auf S. 440 sind versehentlich zwei Sätze in den Text geraten, die im Kontext keinen Sinn ergeben und die auch nicht in der Originalausgabe stehen: »Karl [!] hatte Bonifatius geschickt, um die Friesen zu bekehren, doch 754 wurde dieser von den Friesen ermordet. Deventer sowie fränkische Siedlungen und Kirchen im Rheinland wurden daraufhin von den Sachsen zurückerobert.« Abschließend sei noch angemerkt, dass Bücher, die im Original auf Deutsch erschienen sind, nicht in ihrer englischen Übersetzung zitiert werden sollten. Das betrifft zumindest Herwig Wolfram, »Die Goten« (jetzt in der 5. Auflage, München 2009) und Johannes Fried, »Karl der Große« (5. Auflage, München 2016).
Die zahlreichen, hochwertigen Farbabbildungen werten die Ausgabe zusätzlich auf, ein Personen- und Sachregister erschließt den Band. Hilfreiche Dienste leistet nicht zuletzt ein tabellarischer Überblick zu »Konkurrierenden Mächten in Ravenna«, der in der englischen Ausgabe des Buches fehlt. Hier werden weltliche Herrscher, Exarchen und ravennatische Bischöfe im Untersuchungszeitraum in chronologischer Abfolge nebeneinandergestellt (auf S. 477 müsste es allerdings »Ludwig II., Kaiser« heißen, und nicht »Ludwig der Deutsche«). Kleinerer Abstriche ungeachtet handelt es sich insgesamt um eine hochwillkommene Monografie, die es vermag, die reiche Geschichte dieses wichtigen Knotenpunkts der spätantiken Welt einem breiten Publikum zugänglich zu machen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Till Stüber, Rezension von/compte rendu de: Judith Herrin, Ravenna. Hauptstadt des Imperiums, Schmelztiegel der Kulturen, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 2022, 640 S., 62 Abb., ISBN 978-3-8062-4416-8, EUR 39,00., in: Francia-Recensio 2023/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.2.96754