Die Existenz einer bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts reichenden Fortsetzung der Chronik des Reichenauer Mönches Hermann war lange nur über die Rezeption derselben durch die Fortsetzung der »Casus sancti Galli« sowie insbesondere der »Cronick des gotzhuses Rychenowe« des Gallus Öhem aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert bekannt. Anfang der 1980er-Jahre entdeckte Alois Schütz jedoch in der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg eine Handschrift mit einer Teilabschrift der Chronik Hermanns sowie einer daran angeschlossenen, bis 1102 reichenden Fortsetzung, die bis 1063 eng mit der ebenfalls an die Chronik Hermanns anschließenden Weiterführung Bertholds von der Reichenau verwandt ist. Eine bald darauf von Schütz selbst angekündigte Edition dieses bislang unbekannten Annalenwerkes kam jedoch nicht zur Umsetzung, sodass eine kritische Ausgabe bislang fehlte, wenngleich dessen ungeachtet die Hermann-Fortsetzung selbst seit ihrer Entdeckung vielfach ihren Weg in die Forschung gefunden hat. Die lang ersehnte Edition liefert nun Benedikt Marxreiter, dessen Arbeit die in sie gelegten Ansprüche umfassend zu erfüllen weiß.

Dem eigentlichen Text der Chronik stellt der Bearbeiter eine umfangreiche Einleitung voran (S. 1–100), in der umfassend über die Überlieferungssituation, Entstehung und Verfasser, genutzte Vorlagen, Sprache, Struktur und Tendenz des Textes informiert wird. Darin weiß der Bearbeiter überzeugend neue Ansichten zum Text einzubringen, die den Annahmen von Alois Schütz – niedergelegt in einem unveröffentlichten Entwurf der Einleitung zu seiner nicht erschienenen Edition – vielfach widersprechen. Besonders hervorzuheben sind hier Überlegungen zur Herkunft der ursprünglichen Handschrift und zum Verfasser. Die überlieferte und der Edition zugrunde liegende Handschrift ist nicht zeitgenössisch, sondern eine Abschrift des 15. Jahrhunderts aus dem Besitz des Augsburger Humanisten Konrad Peutinger, der selbst zahlreiche Anmerkungen und Verbesserungen in der Abschrift hinterlassen hat. Vorlage derselben war wohl eine aus dem 12. Jahrhundert stammende, damit autornahe Vorlage, deren Herkunft nicht in St. Gallen, sondern in Konstanz oder auf der Reichenau zu vermuten ist. Ausgehend von der Annahme, dass Konrad Peutinger und Gallus Öhem auf dieselbe Handschrift der Hermann-Fortsetzung zurückgegriffen haben, kann der Bearbeiter eine ansonsten nicht belegte persönliche Beziehung beider zueinander plausibel machen (S. 13–17). Der eigentliche Verfasser der Fortsetzung, ein Zeitgenosse Kaiser Heinrichs IV. (1056‑1105/1106), kann als Kleriker – vielleicht am Konstanzer Domstift tätig – identifiziert werden, sodass die bisher angenommene Abfassung in St. Gallen keineswegs sicher erscheint (S. 22–30).

Zur zusätzlichen Illustration sind der Einleitung sieben farbige Abbildungen beigefügt worden, neben sechs Handschriftenseiten eine hilfreiche Karte des Bodenseeraumes, des geografischen Schwerpunkts der Hermann-Fortsetzung. Der Fortsetzer schreibt zwar Reichsgeschichte und richtet seinen Blick durchaus auch über die Reichsgrenzen hinaus nach England, Frankreich, Byzanz oder ins Heilige Land, sein primäres Interesse gilt aber den Ereignissen im Umfeld des Bistums Konstanz und der Klöster Reichenau und St. Gallen.

Inkonsequent erscheint einzig die Namensgebung des ursprünglich ohne Titel überlieferten Werkes. Der Bearbeiter kann mit guten Gründen die von der Forschung dem Werk zugewiesenen Titel zurückweisen, insbesondere den auf Grundlage der Forschung von Alois Schütz bisher geläufigsten (»St. Galler Fortsetzungen Hermanns des Lahmen«). Sind die Verortung nach St. Gallen sowie die Annahme einer mehrschrittig erfolgten Arbeit an der Fortsetzung nicht mehr zu halten, hebt der Bearbeiter am bisherigen Titel neben der Bezogenheit auf die Hermann-Chronik gerade besonders die Vermeidung eines Gattungsbegriffs hervor: der Titel biete »den Vorteil, die historiographisch vielschichtigen Aufzeichnungen zu erfassen, ohne sie in das Korsett traditioneller Gattungseinteilungen zu zwingen« (S. 32). Die Wahl des finalen zweigliedrigen Titels weiß auf Grundlage dieser Gedanken nicht zu überzeugen.

Die eigentliche Edition lässt keine Wünsche offen, sie bietet neben dem obligatorischen Variantenapparat (vermerkt sind insbesondere Anmerkungen und Verbesserungen Konrad Peutingers sowie Emendationen von Alois Schütz) zusätzlich eine gut lesbare deutsche Übersetzung sowie einen sehr ausführlichen Anmerkungsapparat, der über die reine Identifikation von Personen oder knappe Einordnung von Ereignissen weit hinausgeht. Der Band schließt mit einem Handschriften-, Stellen-, Namen- und Wortregister. Die Fortsetzung der Hermann-Chronik erfährt damit Jahrzehnte nach ihrer Entdeckung, man ist geneigt zu sagen: endlich, ihre angemessene kritische Edition, die durchweg zu überzeugen weiß und eine neue Grundlage zur Beschäftigung mit diesem Werk darstellt.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Matthias Weber, Rezension von/compte rendu de: Benedikt Marxreiter (Hg.), Die sogenannten St. Galler Annalen. Eine anonyme Fortsetzung der Chronik Hermanns des Lahmen (1054–1102), Wiesbaden (Harrassowitz Verlag) 2022, 312 S., 7 Abb. (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi, 79), ISBN 978-3-447-11845-3, EUR 60,00., in: Francia-Recensio 2023/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.2.96757