Die Aussprüche und Erzählungen der ägyptischen (in Ausnahmefällen auch palästinensischen oder syrischen) Wüstenväter haben als »Apophthegmata Patrum« die Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte sowohl des Ostens als auch des Westens beeinflusst. Aus dem Griechischen wurden die »Apophthegmata« seit dem 6. Jahrhundert ins Lateinische übersetzt und entfalteten unter dem Titel »Verba Seniorum« eine breite Wirksamkeit. Diese Übersetzungen präsentieren sich ausgesprochen vielgestaltig – bereits die griechischen Vorlagen hatten sich deutlich voneinander unterschieden. In seiner an der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen im Wintersemester 2021/2022 verteidigten Dissertation, die sich als Detailstudie zu den als Teil der »Vitas Patrum« im Mönchtum benediktinischer Prägung rezipierten »Verba Seniorum« versteht, geht Jan Reitzner der interessanten Frage nach, welche Rolle diese Wüstenvätersprüche in den verschiedenen Zweigen der monastischen Welt des 12. Jahrhunderts in Frankreich spielten.
Zu ihrer Beantwortung holt Reitzner weit aus. Er liefert zunächst eine Übersicht über die verschiedenen lateinischen Übersetzungen der »Apophthegmata patrum« samt deren Editionsgeschichte (Kap. 1), spürt der Rolle der »Verba Seniorum« in der »Benediktsregel« nach (Kap. 2) und behandelt danach ihre Verbreitung im Zeitraum vom 6. bis zum 12. Jahrhundert (Kap. 3). Die Hauptkapitel 4 und 5 behandeln zum einen das Mönchtum traditionellen Zuschnitts, für das der Großverband von Cluny steht, zum anderen das Reformmönchtum, als dessen Exponenten die Zisterzienser zu gelten haben. Wenig überraschend geraten hier die Hauptvertreter der jeweiligen Strömungen, Petrus Venerabilis, Großabt von Cluny, und Bernhard, Abt der Zisterze von Clairvaux, in den Blick. Der weiteren Bedeutung der »Verba Seniorum« in der »Reformbewegung« am Ende des 12. und zu Beginn des 13. Jahrhunderts wird in Kap. 6 nachgegangen, ehe in Kap. 7 die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst und weitere Forschungsperspektiven und -desiderate formuliert werden.
Reitzner besitzt die Gabe, komplexe Sachverhalte knapp und gut verständlich darzustellen. Das beginnt bereits mit den luziden Ausführungen zur Gattungsproblematik (S. 37–46). Hier wird nicht nur auf das Fragmentarische der Sammlungen und eine (vor allem der ursprünglichen Mündlichkeit geschuldete) Heterogenität verwiesen, sondern auch auf die Unmöglichkeit, die Redaktoren der einzelnen Sammlungen zu identifizieren. Apophthegmen können eine klassische Gesprächssituation zwischen Schüler und seinem Abba wiedergeben, sich aber auch als Ausschnitt aus einer kollektiven exhortatio, als kleiner biografischer Traktat oder als längere narrative Geschichte präsentieren. Aufs große Ganze gesehen ist die Anzahl der tatsächlich gesicherten Belege für eine Rezeption der »Verba Seniorum« in der Zeit vor dem 12. Jahrhundert recht übersichtlich. In der »Benediktsregel« ist es ein einziges Zitat in Kap. 40, S. 6f. (»Über das Maß des Getränks«), das für eine direkte Rezeption eines Apophthegmas spricht. Direkte Zitate sind freilich nicht alles: miteinzubeziehen ist auch ein gemeinsamer Diskurshorizont, der in vielen Fällen eine weitergehende Kenntnis der Wüstenvätersprüche auch ohne direktes Zitieren nahelegt. Denn Apophthegmen wurden nicht isoliert, sondern als Teil der jeweiligen Handschrift gelesen, deren Bestandteil sie waren. Hier ist Reitzner unbedingt zuzustimmen: »Der Kontext der Werke verrät im Mittelalter oft weit mehr als die philologische Detailexegese einzelner Wörter, deren Bedeutungsumfang groß und schwer zu bestimmen ist« (S. 111).
Tatsächlich ist die Beschäftigung mit der handschriftlichen Überlieferung von zentraler Bedeutung: In der vorliegenden Untersuchung wird diesem Aspekt auch gebührende Beachtung geschenkt. Im 12. Jahrhundert galt die eremitische Existenz längst nicht mehr als der »schmale«, nur von wenigen überhaupt zu beschreitende Weg. Durch den radikalen Ausbruch aus der Welt konnte einerseits Kritik an der gegenwärtigen Praxis monastischen Lebens geäußert, der Individualisierung und »Verinnerlichung« andererseits zusätzliche Resonanzräume geschaffen werden: »Die Attraktivität des eremitischen Lebens lag nicht in seiner stärkeren Isolation, sondern in seiner größeren Freiheit« (S. 142). Diesen Befund spiegelt die handschriftliche Überlieferung wider. 16 Handschriften mit Apophthegmenmaterial zeugen von der großen Popularität der »Verba Seniorum« in den traditionellen Klöstern vor allem cluniazensischer Prägung. Die Detailanalyse von fünf Handschriften spricht nicht nur deutlich für den Konservatismus der Rezeption, sondern auch für ihre bewusste Lenkung durch Überschriften oder Inhaltsverzeichnisse. Besonderes Augenmerk liegt auf der Person des Petrus Venerabilis (1092/1094–1156), der noch immer auf seinen (modernen) Biografen wartet. Es ist der Aspekt der Ordnung, der für Petrus von besonderer Bedeutung war, eine Ordnung zönobitischer Prägung, in der das eremitische Element aber durchaus seine Daseinsberechtigung hatte. Das zeigt nicht zuletzt die Analyse eines Briefes (ep. 20) an einen Einsiedler (Ad Gislebertum) mit dem einzigen Beleg für die Rezeption von Apophthegmen bei Petrus Venerabilis. Der Großabt schlägt in dem umfangreichen Brief keine kreativen oder innovativen Neuerungen vor, sondern verweist auf die Alterität der Welt der Apophthegmen und die Pluralität des Mönchtums insgesamt.
Beim Blick auf die Handschriftenproduktion der Reformorden, insbesondere der Zisterzienser, fällt auf, dass Inhaltsverzeichnisse oder aussagekräftige Überschriften fehlen. Der Bruch mit der handschriftlichen Überlieferung ist klar erkennbar. Apophthegmen wurden »lebendig angeeignet, angepasst und adaptiert« (S. 296). Sie sind als Aufforderung für den Leser zu verstehen, auf das Beispiel der Wüstenväter mit eigenen asketischen Anstrengungen zu antworten. Veränderungen zielen dabei auf das Innere, nicht aber auf die Reflexion über die andere geschichtliche, geografische und sonstige Alterität. Dies wird am Beispiel Bernhards von Clairvaux besonders deutlich, in dessen Schriften die spärliche Präsenz von »Verba Seniorum« vor allem als Identifikationsangebot zu einer strengeren Askese zu verstehen ist. Die Arbeit verdeutlicht, in welchem Maße Exponenten der monastischen Reformbewegung des 12. Jahrhunderts auf viele Alteritätsmarker verzichteten, um eine möglichst direkte Identifikation mit den Wüsteneremiten zu befördern. Während Petrus Venerabilis die Tradition ordnete und bewahrte, um individuellem asketischem Übereifer entgegenzuwirken, instrumentalisierte Bernhard diese Tradition, um asketische Anstrengungen zu provozieren.
In einem rund 150 Seiten umfassenden Anhang werden alle Handschriften erfasst, die Apophthegmenmaterial überliefern. Verzeichnet werden dabei jeweils a) der Entstehungsort, b) die Entstehungszeit, c) die Provenienz und d) der Inhalt der Handschrift. Die insgesamt recht gut lesbare Arbeit hätte an einer Stelle deutlich entschlackt werden können: den Fußnoten. Welchen Mehrwert haben die häufigen langen Zitate aus zumeist englischsprachiger Sekundärliteratur, deren Inhalt im (deutschen) Haupttext bereits paraphrasiert, wenn nicht gar übersetzt wurde? Dieses Monitum schmälert den Wert der Arbeit jedoch kaum. Die enorme Bedeutung der »Verba Seniorum« jedenfalls dürfte der Forschung jetzt noch deutlicher als zuvor ins Bewusstsein treten. Eine Fortführung dieser Arbeit in die Zeit des Spätmittelalters hinein würde ohne Zweifel reichen Ertrag versprechen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Ralf Lützelschwab, Rezension von/compte rendu de: Jan Reitzner, Die Verba Seniorum in der monastischen Welt Frankreichs im 12. Jahrhundert. »Reformare« oder »meliorare«?, Münster (Aschendorff) 2022, XII–612 S. (Archa Verbi. Subsidia, 21), ISBN 978-3-402-10327-2, EUR 79,00., in: Francia-Recensio 2023/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.2.96762