Die Monografie, eine überarbeitete Dissertation, die bei Jörg W. Busch in Frankfurt entstanden ist, widmet sich anhand eines bekannten Quellenkorpus, der »Libelli de lite«, einer erstaunlich schlecht untersuchten Frage, nämlich welche Bedeutung die Bibel im Mittelalter als Rechtsquelle hatte. Die Arbeit gliedert sich dabei in zwei Teile.

Kapitel I des ersten Teils untersucht die »Bibel im Kirchenrecht des Mittelalters«. Über die Bibel als materielles Recht erfährt man hier leider ziemlich wenig (obwohl die Rechtssammlungen teils hunderte, im Falle Gratians sogar über 2800 Bibelstellen enthalten, deren genaue Funktion sehr unterschiedlich war). Spahn konzentriert sich vor allem auf die Hierarchie von Autoritäten und dabei auf die Ausführungen von Bernold von Konstanz einerseits und Gratian andererseits, um die Stellung der Bibel im Vergleich zu anderen Rechtsquellen zu untersuchen.

Die Raffinesse von Bernolds Argumentation und der Einfluss von Gratians Dekret sind gute Gründe, diese Quellen heranzuziehen, für Spahns Fragestellung etwas misslich ist allerdings, dass Bernold die Bibel gar nicht und Gratian sie nur als Quelle des Naturrechts erwähnt (wie John Wei nachgewiesen hat, ist sie für Gratian aber auch weit darüber hinaus wichtig)1. Eher beiläufig wird deutlich, dass auch andere Kataloge von Rechtsquellen die Bibel oft »vergessen«, ohne dass man ihren Autoren eine Geringschätzung der Bibel unterstellen wollte. Notgedrungen zieht sich Spahn hier auf Plausibilitätsargumente zurück, um zu argumentieren, dass Bernold die Bibel als höchste Autorität des Rechts angesehen habe, auch wenn er dies nicht explizit sage (S. 44f.). Tatsächlich ist es eher die Ausnahme, wenn im frühen und hohen Mittelalter einmal die Bibel, Dekretalen und andere Rechtsquellen in eine klare hierarchische Ordnung gebracht werden; eine der wenigen, im 11. und 12. Jahrhundert aber sehr weit verbreitete Rechtsquellenlehre dieser Art ist eine kleine, Innozenz I. zugeschriebene Fälschung (JK † 320 = J3 † 720), die unter anderem bei Bonizo, Deusdedit, Ivo, Gregor von San Grisogono und Gratian in recht unterschiedlichen Fassungen auftaucht.

Das zweite Kapitel untersucht die Quellengattung der Streitschriften. Wie andere vor ihm stellt Spahn fest, dass es an belastbaren Definitionen mangele und es »mitunter recht willkürlich« sei, welche Schriften seinerzeit als »Libelli de lite« in den berühmten drei MGH-Bänden ediert wurden (S. 71). Dennoch bleiben sie auch für ihn das entscheidende Korpus, aus dem er aus pragmatischen Gründen vor allem die bekanntesten Texte heranzieht. Überzeugend argumentiert er, dass diese Schriften als Rechtsliteratur gelten können (S. 77–81).

Im dritten Kapitel des ersten Teils schließlich wendet sich Spahn der Frage zu, welche unterschiedlichen Methoden der Interpretation biblischer Texte im früheren Mittelalter zur Verfügung standen, und unterscheidet drei Ansätze: »kanonische«, »autoritative« und »pragmatisch-praktische« Interpretation, wobei Letztere insbesondere die Überarbeitung von Bibelzitaten meint.

Der zweite und eigentliche Hauptteil der Arbeit widmet sich der Behandlung verschiedener strittiger Themen in den Streitschriften, soweit dabei biblische Zitate und ihre Auslegung eine Rolle spielen. Die einzelnen Kapitel widmen sich jeweils zentralen Themen der Streitschriftenliteratur, namentlich der Zwei-Gewalten-Lehre, den Leib-Metaphern für die Kirche, der päpstlichen Binde- und Lösegewalt, der Begründung weltlicher Herrschaft und dem Status des gesalbten Herrschers. Diese Themen sind spätestens seit den 1890er-Jahren schon oft und dabei nicht selten anhand der auch von Spahn verwendeten Quellen untersucht worden; die Konzentration spezifisch auf die Rolle der biblischen Zitate ist aber in der Tat ein neuer Blickwinkel. Deutlich wird zum Beispiel, dass es auch vom Thema abhing, welche Seite stärker auf Bibelzitate setzte; zum Verhältnis der beiden Gewalten war es die kaiserliche Seite, die sich auf das biblische »Dem Kaiser geben, was des Kaisers ist« stützt, zur Binde- und Lösegewalt führten vor allem Anhänger des Papstes »ihre« Bibelstellen an (im Falle von Anselm, Gregor VII. und anderen auch in »ihrer«, nämlich tendenziös überarbeiteten Fassung). Sehr präzise ist etwa die Differenzierung zwischen der »Schlüsselgewalt« und der »Binde- und Lösegewalt«, die die sehr unterschiedlichen Auslegungen der bekannten Verse des Matthäusevangeliums besser zu verstehen hilft (S. 191–229).

Die gelegentlich behauptete Vorliebe prokaiserlicher Autoren für das Alte Testament im Gegensatz zur Bevorzugung des Neuen Testamentes unter Gregorianern ist zwar nicht ganz ohne Grundlage, lässt sich aber nach Spahns überzeugenden Argumenten eindeutig nicht verallgemeinern. Auch die Großerzählung einer »Entsakralisierung« wird für Spahn umso weniger überzeugend, je genauer man auf die (biblisch begründete) Bedeutung der Sakralität des gesalbten Herrschers achtet. Solche Differenzierungen zu erreichen ist angesichts von Quantität und Qualität der einschlägigen Forschung eine beachtliche Leistung.

Es bleibt das Problem, dass die »Libelli de lite« eine kleine Auswahl oft wenig verbreiteter Traktate sind und es nicht von vorneherein klar ist, was dieses Quellenkorpus vor anderen privilegiert. Kann man auf dieser Basis die »unveränderte Bedeutung der Bibel in einer veränderten Welt« (so die Überschrift des Schlusskapitels S. 277) belegen? Das behauptet Spahn zum Glück nicht. Als Beleg für die unverändert große Bedeutung der Bibel verweist er im Schlusskapitel eher auf allgemeine Beobachtungen, anstatt riskante Thesen über die unmittelbaren Wirkungen der Streitschriftenliteratur auf das Kirchenrecht aufzustellen. Das ist klug, denn wie Spahn selbst deutlich macht, hat ja gerade Gratian (den er zu Recht meist heranzieht, wenn es um »das« Kirchenrecht geht) ein innovatives Verständnis der Bibel als Naturrecht entwickelt, das man nicht aus den als »Libelli de lite« edierten Traktaten herleiten kann. Die sicher wichtige »Erkenntnis, dass sich mit ein und derselben Autorität Gegensätzliches begründen ließ« (S. 92), konnte man im 11. und 12. Jahrhundert auch in anderen Kontexten als dem Streit zwischen Kaiser und Papst gewinnen, der sogenannte Berengarstreit dürfte das bekannteste Beispiel sein.

Spahn war daher gut beraten, seine Studie vor allem als Beitrag zur Erforschung der »Libelli de lite« und weniger als Plädoyer für den Einfluss derselben auf das Recht des späteren Mittelalters anzulegen. Hier kann er neue Erkenntnisse vorlegen und eine von der älteren Forschung in der Tat oft nachlässig behandelte Frage durch quellennahe Argumentation überzeugend beantworten: Die Streitschriften, in denen das Verhältnis von Kaiser und Papst um 1100 neu bestimmt wurde, waren auch Rechtsliteratur, und ohne Zweifel war die Bibel nicht nur irgendeine, sondern auch spezifisch eine rechtliche Autorität, die im Rahmen dieser Diskussionen verstärkt als Rechtsquelle diskutiert wurde.

1 John C. Wei, Gratian the Theologian, Washington 2016 (Studies in Medieval and Early Modern Canon Law, 13).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Christof Rolker, Rezension von/compte rendu de: Philipp N. Spahn, Die Bibel als Norm? Das Ringen um das Recht der Kirche in Streitschriften aus der Zeit des Investiturstreits, ca. 1050–1140, Frankfurt am Main (Vittorio Klostermann) 2021, 416 S. (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 335), ISBN 978-3-465-04544-1, EUR 89,00., in: Francia-Recensio 2023/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.2.96765