Das Forschungskonzept »Oratorik« wurde anhand von spätmittelalterlichen Reden entwickelt, um deren Bedeutung als historische Ereignisse und als wesentliches Element politischer Versammlungen zu untersuchen1. Eine auf Reden konzentrierte Geschichtsforschung ist inzwischen fest etabliert. Ist ein solcher Ansatz jedoch sinnvoll, wenn regelmäßig unklar bleibt, ob die untersuchten Reden überhaupt gehalten wurden, was gesagt wurde, in welche konkreten kommunikativen Situationen die Reden einzuordnen sind, wer die Zuhörer waren und wie ihre Reaktion ausfiel, ja wenn überhaupt in der Textüberlieferung das Genre Rede unentwirrbar mit denen der Chronik, der Heiligenvita, des Synodalstatuts und anderer Texttypen verschwimmt?
Die Habilitationsschrift von Georg Strack zu den päpstlichen Konzilsansprachen zeigt eindrucksvoll, wie ein solcher Ansatz auch unter früh- und hochmittelalterlichen Überlieferungsbedingungen funktionieren kann, nämlich durch eine tiefgehende und akribische Aufarbeitung der Überlieferungstradition. Untersuchungsgegenstand ist hier weniger das konkrete Redeereignis als dessen Transformationen in der Chronistik und Hagiografie. Schlüsselbegriffe zur Beschreibung dieses späteren Eigenlebens der Redetexte sind réécriture und amplificatio. Das immer wieder Neuschreiben und rhetorische Ausschmücken des vorgefundenen Materials gehörte wie selbstverständlich zur oratorischen Erinnerungskultur. Erst so bekamen Reden ihren Platz in der politischen Kultur der Zeit.
Die Analyse hochmittelalterlicher Reden bereitet besondere methodische Schwierigkeiten. Bereits die Abgrenzung der Textgenres muss häufig unscharf bleiben. Wenn Reden in Chroniken und Heiligenviten eingefügt oder von den jeweiligen Autoren frei fingiert werden, wenn Redeelemente in die Formulierung von Konzilsdekreten einfließen, ist eine genuin oratorische Analyse kompliziert. Geleistet wird jedoch eine oft sehr aufwändige Darstellung der in den Redetexten verwendeten Topoi und Stilfiguren. Intertextuelle Bezüge werden im Einzelnen nachverfolgt und diskutiert, oft im explizit betonten Kontrast zur bisherigen Forschung.
Drei Großkapitel geben die Struktur der Arbeit vor. Während der dritte Abschnitt (S. 203–275) dem 13. und frühen 14. Jahrhundert gewidmet ist, überlagern sich die ersten beiden Abschnitte (S. 11‑128 und S. 129–202) chronologisch und behandeln Reden des 11. und 12. Jahrhunderts. Das Abgrenzungskriterium ist hier die Konfliktträchtigkeit des Redethemas. Im Fokus stehen daher zunächst Reden, die einen grundsätzlichen Konsens darstellen und feierlich überhöhen sollten. Die politischen Themen (Priesterzölibat, Exemtionsprivilegien) hatten freilich durchaus ein gewisses Konfliktpotenzial. Die Betonung des Konsenses konnte im Einzelfall auch mit der Überlieferung im Umfeld der von der letztlich getroffenen Regel begünstigten Parteien zusammenhängen.
Auf der anderen Seite setzten die im zweiten Abschnitt analysierten Reden in Situationen des offenen politischen Konflikts (Investiturstreit, alexandrinisches Schisma) durchaus auf eine demonstrative Überhöhung des Konsenses, zumal sie im Regelfall vor den eigenen Anhängern gehalten wurden, bzw. waren als Tadelreden zur feierlichen Begleitung von Exkommunikationen der abwesenden Gegner ohnehin dem epideiktischen Genre verpflichtet. Dennoch konnten in der historiografischen Tradition politische Konflikte durch Reden diskursiv ausgestaltet werden; sogar oratorische Fernduelle von gegnerischen Schismapäpsten sind überliefert, bei denen die rhetorischen Qualitäten des favorisierten Kandidaten und die Defizite seines Gegners dargestellt werden. Oratorische Inszenierung gehörte zumindest in der historiografischen Deutung zum Profil des früh- und hochmittelalterlichen Papstes.
Einen grundlegend anderen Charakter erhält die Arbeit im dritten Abschnitt, dessen Reden nunmehr mit größerer Sicherheit inhaltlich erschlossen und in konkrete historische Situationen eingebettet werden können. Wir erfahren faszinierende Details über die typische actio der Papstansprache: auf einem erhöhten Thron im Kirchenchor sitzend, von Wandteppichen umgeben und in räumlicher Distanz zum Publikum hinter dem Lettner akustisch kaum verständlich. Auch diese Reden waren nach dem Ereignis Umformungsprozessen in Historiografie und Gesandtschaftsberichten ausgesetzt, jedoch wird durch die Erschließung des Redetextes nun immer deutlicher, wie subtile politische Botschaften in der festlichen Konsensrhetorik versteckt werden konnten. Dies gilt umso mehr für die in einem abschließenden Exkurs (S. 276–296) behandelten Papstansprachen im Konsistorium.
Zwei Reden markieren den Kern der vorliegenden Studie, quantitativ wie konzeptionell. Sehr verdienstvoll ist die umfassende überlieferungsgeschichtliche Aufarbeitung der berühmten Kreuzzugsrede Urbans II. in Clermont aus dem Jahre 1095, deren Transformationen in der Chronistik, der politischen Redekultur und der Kunst bis weit in die Neuzeit verfolgt werden (S. 39–125). Eine besondere Stellung nimmt darüber hinaus die Eröffnungspredigt Innozenz’ III. zum IV. Laterankonzil (1215) ein, die als erste Papstansprache auch außerhalb der Chronistik überliefert ist und noch lange Zeit als Modell für ähnliche Reden dienen sollte. Ihr Text wird in kritischer Edition gebracht (S. 297–310).
Ein Handschriften-, Namens- und Bibelstellenregister sowie farbige Abbildungen ergänzen die Ausstattung des Bandes.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Thomas Woelki, Rezension von/compte rendu de: Georg Strack, Solo sermone. Überlieferung und Deutung politischer Ansprachen der Päpste im Mittelalter, Wiesbaden (Harrassowitz Verlag) 2022, 328 S. (Monumenta Germaniae historica. Schriften, 79), ISBN 978-3-447-11388-5, EUR 70,00., in: Francia-Recensio 2023/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.2.96766