Seit dem Siegeszug der Kultur- und Globalgeschichte ist die Sozialgeschichte in den letzten beiden Jahrzehnten etwas ins Hintertreffen geraten. Umso erfreulicher, dass sich die Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes eines klassischen Themas sozialhistorischer Forschung angenommen haben, der sozialen Mobilität. Doch während soziale Mobilität meist im Kontext von Aufsteigerbiografien untersucht wurde – erinnert sei an die zahlreichen Studien zu Ministerdynastien im Frankreich des Ancien Régime – widmen sich die Autoren und Autorinnen des Bandes der sozialen Mobilität in die andere Richtung: dem sozialen Abstieg.

Als Ausgangspunkt für diesen Ansatz dient der Impuls der Gegenwart, ist doch aktuell der Niedergang – Stichwort »déclassement« – der Mittelschicht ein bedeutendes Thema soziologischer Studien. Daher ist es nur konsequent, auch in historischer Perspektive das Phänomen des sozialen Abstiegs zu untersuchen. Die Herausgeber entwickelten hierzu einen Fragenkatalog: Erstens, wie sieht es mit der Verantwortlichkeit für sozialen Abstieg aus? Ist man Opfer von Umständen oder verschuldet man seinen Niedergang selbst? Zweitens, wie gestaltet sich das Verhältnis von Abstieg und Rang – wann und von welchem Rang innerhalb der hierarchisierten Ständegesellschaft der Frühen Neuzeit stieg man ab? Drittens, sollen die Formen des Abstiegs präzisiert werden, handelt es sich um eine materielle und/oder moralische Deklassierung? Wie wird diese wahrgenommen? Und viertens, welche Erscheinungsformen und Kontexte der Deklassierung gibt es, wie verläuft der Prozess des sozialen Niedergangs? Handelt es sich wie im Falle frühneuzeitlicher Mobilität nach oben auch um einen sich über Generationen hinziehenden Prozess? Die insgesamt 20 Beiträge verteilen sich in etwa gleichen Anteilen auf vier Kapitel: »Hiérarchies et catégories sociales«, »Processus économiques et expérience sociale«, »Trajectoires« und »Dynamiques révolutionnaires«.

Der geografische Rahmen für diese Untersuchungen liegt in Frankreich und Italien, wobei es natürlich interessant gewesen wäre, das Thema am Beispiel von Fallstudien für das Alte Reich zu behandeln, da sich hier auch Anschauungsmaterial finden ließe, etwa Abstiegserfahrungen im Kontext der Reformation und der Aufhebung von Klöstern, im Zuge von Säkularisationen im Kontext der Revolution (Ende der geistlichen Fürstentümer, der Reichsritterschaften usw.).

Die Gefahren des sozialen Abstiegs, besonders für den Adel, drohten (fast) überall, vor allem für die nachgeborenen Kinder. Ihre Chancen, durch eine prestigeträchtige Heirat eine eigene Linie zu begründen waren deutlich schlechter; in Frankreich wurden sie – je nach Region – bei Erbteilungen übergangen bzw. benachteiligt. Große Ungleichheit ist zwischen älteren und jüngeren Familienlinien zu beobachten und der Umweg einer Karriere beim Militär, um zu sozialen Ehren zu gelangen, war mit einem hohen Risiko verbunden (Élie Haddad, S. 61–82). Vauban und Villars, beide aus den unteren Rängen des Adels stammend, gelang eine blendende Karriere in der Armee, die sie bis zum Marschallsamt und den damit verbundenen Ehren führte. Aber wie viele junge adlige Offiziere starben auf diesem Weg auf den Schlachtfeldern des 17. Jahrhunderts? Eng damit verbunden ist die zeremonielle Zurücksetzung, Ursache zahlreicher Konflikte am französischen Hof (Fanny Cosandey, S. 83–99).

Auf die verschiedenen Perspektiven, die die Beiträge eröffnen, kann hier leider nicht eingegangen werden. Erfreulich ist, dass viele Beiträge sich mit der Rolle von Frauen im Kontext von sozialer Deklassierung beschäftigen. Sylvie Steinberg untersucht z. B. die »dérogeance« von adligen Frauen, die einen »roturier« geheiratet haben – eine klassische Mesalliance. Anhand von Prozessakten untersucht sie, ob es den Frauen möglich war, nach dem Tode ihres Mannes ihren Adelsstand zu bewahren. Zum Konflikt und damit zum Niederschlag in den Quellen kam es, wenn diese sich weigerten, Steuern zu zahlen (S. 17–39). Auch aus emotionshistorischer Perspektive kann die Problematik erhellt werden (Marine Carcanafue, S. 41–59). Eine eindrucksvolle Fallstudie für die verschiedenen Kräfte, die über Auf- und Abstieg bzw. Erhaltung des erreichten Status entscheiden, bietet Pauline Ferrier-Vaud am Beispiel von Paule Payen, der Gattin von Hugues de Lionne, des ersten Außenministers Ludwigs XIV. (S. 263–282). Von ihrem Ehemann – wohl zu Unrecht – des Ehebruchs angeklagt, verlor sie alle Rechte und ihren sozialen Status. Hinter der Anklage stand das Bemühen Lionnes sowie der Erben, sich den Zugriff auf ihre reiche Mitgift zu sichern. Dahinter steckt vor allem die Angst vor einem sozialen Abstieg der Familie, die ja mit Hugues de Lionne gerade erst die obersten Ränge in der noblesse de robe erreicht hatte.

Italien mit seinen vielen Stadtrepubliken und den jeweils verschiedenen Erscheinungsformen des Adels bietet ein weites Untersuchungsfeld an. Carlo Bitossi blickt auf Mechanismen sozialen Abstiegs am Beispiel des Genueser Adels (S. 101–111); Maria Luisa Ferrari auf das Beispiel Veroneser Familien (S. 303–321) und Marcella Aglietti auf den toskanischen Adels am Ende des 18. Jahrhunderts (S. 381–399); Massimo Galtarossa auf Gnadengesuche, die in der venezianischen Cancelleria ducale eingereicht wurden, um soziale Deklassierung etwa aufgrund von Verschuldung zu vermeiden (S. 113–131).

Große gesellschaftliche Krisen können bekanntlich eine ungemeine soziale Dynamik entfalten – die Französische Revolution bietet reiches Anschauungsmaterial für sozialen Auf- und Abstieg (Haim Burstin, S. 325–339). Betroffen davon war bekanntlich der französische Adel an erster Stelle wie Claude-Isabelle Brelot am Beispiel des Adels in der Franche-Comté illustriert (S. 401–420).

Diese wenigen zusammenfassenden Bemerkungen sollten gezeigt haben, dass der Band zahlreiche Antworten auf die oben genannten Fragen liefert und ein breites Spektrum eines bedeutenden Phänomens zeichnet, das nicht nur für die Gesellschaft der Gegenwart von Bedeutung ist, sondern auch für die (nur) scheinbar immobilen Strukturen der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Sven Externbrink, Rezension von/compte rendu de: Michela Barbot, Jean-François Chauvard, Stefano Levati (dir.), L’expérience du déclassement social. France-Italie, XVIe–premier XIXe siècle, Roma (École française de Rome) 2021, 446 p. (Collection de l’École française de Rome, 573), ISBN 978-2-7283-1442-3, EUR 35,00., in: Francia-Recensio 2023/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.2.96839