Napoleon ist und bleibt ein zweischneidiges Thema, in Frankreich wie auch anderswo. Am »héros populaire«, wie ihn die Julimonarchie nannte, erwärmt sich bis heute manches Herz, während sich die Fünfte Republik eine gewisse Zurückhaltung auferlegte und sich dem Jubiläumstrubel der letzten Jahre nur mit spitzen Fingern anschloss. Ein erhabenes Sowohl-als-auch, ein abwägendes »Ja, aber« kennzeichnete die Haltung des Staates bei den Gedenkfeiern bis zum 200. Todestag am 5. Mai 2021.
Besonders beim »Konsulat« scheiden sich die Geister. Während es für echte Napoleon-Bewunderer ein Durchgangsstadium bleibt, dessen sich ihr Held nur als Sprungbrett zu seiner Bestimmung als Empereur bediente, war es in den Augen anderer die »gute« Zeit, als Bonaparte noch nicht Napoleon war, als die Revolutionskriege vorüber und die imperialen Kriege noch nicht ausgebrochen waren und das Werk der Französischen Revolution ein dauerhaftes Fundament erhielt. Was aber, wenn die vermeintliche gesetzgeberische Großtat selbst zur Disposition gestellt wird, wenn die angeblichen »Reformen«, in denen die Grundlagen für den Staatsaufbau Frankreichs in den folgenden beiden Jahrhunderten gelegt wurden, gar nicht mehr in der Erfolgsbilanz Napoleons auftauchen, sondern als Rückschritt, als Denaturierung des Erbes der Revolution angesehen werden? Eine solche Perspektivverschiebung unternimmt nun ein Taschenbuch aus der Feder eines Historikergespanns, das schon Studien über Robespierre und das Direktorium vorgelegt hat. Als manuel für Schule und Universität schlägt es mit 15 Euros die Konkurrenz, ist nüchtern formuliert und verzichtet fast gänzlich auf biografische Abschweifungen.
Die Hauptthese lautet, dass die napoleonischen »Reformen« die Exekutive in einer Weise gestärkt haben, dass sie den republikanischen Staat, den die Brumaire-Putschisten als ein nach wie vor im fortgeschrittenen Stadium befindliches Experiment vorfanden, nur noch als leere Hülle stehenließen, die Legislative aber zugunsten einer auf einen Mann zugeschnittenen Exekutive entmachtet wurde, wobei das allgemeine Wahlrecht, zum Plebiszit verkommen, als Feigenblatt bei der faktischen Ausschaltung des Volkes diente. Nach Napoleon, so lassen die Autoren anklingen, sei der so geschaffene Staatsaufbau im Prinzip beibehalten worden, die Zentralisierung und damit das vertikale Prinzip der Herrschaft mit seiner Dominanz der Administration über die demokratischen und föderalen Elemente lebe 200 Jahre nach seiner Erfindung fort und mache Frankreich heute zur »monarchie républicaine«.
Es ist hier nicht der Raum, die Stringenz dieser Deutung anhand der einzelnen Reformschritte nachzuverfolgen, die die Autoren auf dem relativ begrenzten Raum von 280 Seiten durchdeklinieren. Nur so viel sei gesagt: die angeblichen »Granitblöcke«, die Napoleon noch auf Sankt-Helena rühmte, die er unwiderrufbar im Boden Frankreichs versenkt habe, werden allesamt als verhängnisvolle Hypotheken entlarvt. Schon der Staatsstreich war für die Autoren ein von langer Hand geplantes Manöver zur Absicherung der »République des propriétaires«, initiiert von Sieyes und Cabanis, das Bonaparte seinen Vordenkern entwand und als Hebel zur Errichtung seiner Ein-Mann-Herrschaft benutzte, die er durch das Plebiszit vom Dezember 1799 absegnen ließ: mit seinen vermeintlich drei Millionen Ja-Stimmen ein, wie die Autoren auf neuere Studien gestützt, zeigen, gigantischer Betrug, den die Napoleon-Biografen in seinem Umfang bisher unterschätzt haben.
Ähnlich schlecht kommen die eigentlichen »Reformen« weg. Die Widerstände, die sich der Verwaltungsroutine noch entgegenstellten, wurden nacheinander aus dem Weg geräumt; Präfekten, die sich als kleine Könige in ihren Departements gebärdeten, wurden vom Innenminister an die kurze Leine gelegt, während die paramilitärisch organisierten lycées die vorhandenen Écoles centrales verdrängten. Der »Code civil« wurde zum Freifahrschein für die Landbesitzer, das Konkordat war ein Sieg der katholischen Kirche über den Geist der Revolution. Ergänzt wird diese Sichtweise dadurch, dass das Konsulat auch bei der Kolonialpolitik und den Menschenrechten als retrograder Akteur identifiziert wird. Mit der Wiedereinführung der Sklaverei und dem Versuch der Rückeroberung Haitis habe sich Napoleon, so Belissa und Bosc, international auf die Seite der Unterdrücker geschlagen.
Dass die Autoren sich bei der Analyse der vermeintlichen »Reformen« Bonapartes und ihrer Umsetzung auf ihrem ureigenen Terrain bewegen, merkt man den zahlreichen quellengesättigten Beispielen oder den Verweisen auf entsprechende Ergebnisse der jüngeren Forschung an, die fast alle entweder aus neueren Jahrgängen der »Annales historiques de la Révolution française« oder aus französisch- und englischsprachigen Beiträgen der Zeit nach 1989 stammen. Auch den Ausführungen zur Außenpolitik der Konsulatsjahre, die weniger innovativ als resümierend ausfallen, kann man zustimmen, jedenfalls was die Beziehung des napoleonischen Frankreichs zu den »Neufranzosen« und die von Napoleon ausgelassenen Chancen auf die »paix générale« angeht. Bei der Frage, ob der Friede von Amiens eine solche Gelegenheit bot, weichen Belissa und Bosc nicht auf die gern gepflegte »Die-Zeit-war-noch-nicht-reif«-Formel aus, sondern kommen (S. 187) zu der erstaunlich kritischen Einschätzung: »La paix générale aurait fort bien pu se stabiliser et aboutir à une toute autre configuration que celle qui s’est imposée, mais la politique agressive de Bonaparte en Europe, jointe à la volonté de revanche de l’Angleterre, précipita le retour à la guerre«.
Man könnte dieser wuchtigen Gesamtabrechnung mit dem Konsularsystem Bonapartes den Einwand entgegenhalten, dass die Brumairianer es bei ihrem Wagnis einer autoritären Republik mit einem militärisch hochgerüsteten, im Landkrieg sehr erfolgreichen, aber im Inneren zersplitterten Land zu tun hatten, das ohne ein festes Korsett auseinanderzubrechen drohte. Dass sich die folgenden Regime, egal welcher Couleur, später gerne des von Napoleon geschaffenen Instrumentenkastens zu bedienen wussten, machte die Sache nicht besser. Aber kann und darf man das dem Erstbenutzer anrechnen?
Es ist jedoch nicht das klassische Argument des »Retters«, an dem sich die Autoren stoßen. Stattdessen meinen sie die These von der denaturierten Revolution durch ständige Vergleiche des Konsulats mit früheren Phasen der Revolution ergänzen zu müssen, die immer zugunsten der Revolution und insbesondere ihrer jakobinischen Phase ausfallen. So liest man den beiläufig formulierten Satz, das Konsularsystem habe mit der Logik der Dezentralisierung von 1789 gebrochen, »renforcée par le gouvernement révolutionnaire en l’an II« (S. 79). Hier stutzt man: das Comité de salut publique und die vom Konvent mit diktatorialen Vollmachten ausgestatteten commissaires en mission als Agenten der Dezentralisierung? Natürlich meinen die Autoren mit ihrem Lob auf »l’an II« die jakobinische Theorie, die in der nie verwirklichten radikaldemokratischen Verfassung von 1793 gipfelte, die noch die Kommune 1871 als Fanal vor sich hertrug. Und man weiß auch, wie das gängige »revisionistische« Gegenargument hierzu lautet: Die Überwachungsausschüsse in den Gemeinden, gepriesen von Robespierre und den Führern der Bergpartei als authentische Stimme des Volkes, befanden sich in der Hand einer politisierten Minderheit; in der Praxis bestand der vom Konvent legitimierte Terror der Ausschüsse, bestärkt durch die alles dominierende Notwendigkeit des Krieges.
Ärgerlich ist hier weniger die vereinfachende Sicht der Autoren (sie sind eben bekennende Neo-Jakobiner!) als vielmehr die autoritative Selbstverständlichkeit, mit der ihr durchaus umstrittener Blick auf die Terreur-Phase und das »Jahr II« in den Dienst eines anderen Themas gestellt wird, so als wäre er Ausdruck einer unumstößlichen Gewissheit. Man kennt solche die Leser und Leserinnen vereinnahmende Voreingenommenheit aus der Zeit, als noch Soboul gegen Furet zu Felde zog und dieser mit zynischen Formulierungen wie „le catéchisme révolutionnaire“ zurückschoss. Diese Zeit ist doch eigentlich lange vorbei!
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Klaus Deinet, Rezension von/compte rendu de: Marc Belissa, Yannick Bosc, Le Consulat de Bonaparte. La fabrique de l’État et la société propriétaire 1799–1804, Paris (La fabrique éditions) 2021, 304 p., ISBN 978-2-35872-222-3, EUR 15,00., in: Francia-Recensio 2023/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.2.96876