Adelsmemoiren der Frühen Neuzeit üben eine spezifische Faszination auf heutige Leserinnen und Leser aus. Durch die romantisierende Brille des 19. Jahrhunderts scheinen sie auf das selbstbewusste Ringen des modernen Individuums mit der eigenen Vergangenheit vorauszuweisen, dem aktuell auch in der Gegenwartsliteratur viel Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dieser Wahrnehmung, dass wir es im Falle dieser Texte also mit einer écriture intime zu tun hätten, tritt Yohann Deguin entschieden entgegen. Ein großes Verdienst seiner Studie liegt in eben dieser Entschiedenheit, mit der er den sozialen Ort aufzeigt, dem die adligen Autorinnen und Autoren des Ancien Régime unverbrüchlich verpflichtet sind. Das Kollektiv, das ihr Schreiben auf fundamentale Art und Weise orientiert, ist die Familie, doch dürfen weder dieses Schreiben noch dieses soziale Gefüge als selbstverständliche, voneinander unabhängige Größen aufgefasst werden, die sich einfach aufeinander abbilden ließen. Vielmehr werden die untersuchten Texte als sichtbarer Pol einer Handlungslogik betrachtet, in der das Schreiben des Einzelnen das Kollektiv, durch das es bewegt wird, als famille d’encre zugleich hervorbringt. Die Studie zeichnet sich also durch einen praxeologischen Ansatz aus, der sowohl den Familien- als auch den Literaturbegriff aus einer historisch informierten Perspektive beleuchtet.

Der erste Teil der Studie konzentriert sich auf die Frage, wie (Wahl-)Verwandtschaften im Text artikuliert bzw. als textuelle Konstellationen – und für wen – sichtbar gemacht werden. Die einzelnen Elemente der Konstellationen beschränken sich dabei nicht auf die »mots de la tribu« (S. 47–56), also die zeitspezifischen Bezeichnungen für Blutsverwandtschaft, sondern erweitern sie zu vielgliedrigen »réseaux de solidarité« (S. 57–110), in die sich insbesondere Freundschafts- und Klientelbeziehungen integrieren lassen. Das »Ich« des Schreibenden wird als ein »singulier-collectif« verstanden, das neben dem »Nous-Je« auch das »Tu-Nous« umfasst, nämlich die Nachkommenschaft, die in der famille d’encre ihren virtuellen Platz hat:

»Le mémorialiste s’érige ainsi en médiateur idéal entre une génération-modèle, qui lui est contemporaine, à laquelle il tend un miroir et une génération future, invitée à trouver dans les Mémoires un récit familial à valeur de mythe, sur les fondations duquel affermir une identité qui ne peut pas s’envisager hors de la famille dont on hérite et qu’on doit rendre après se l’être approprié par l’écriture« (S. 184).

Auf dem Schachbrett familiärer Konfigurationen und im Spannungsfeld von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden typische »Familienfiguren« bewegt (S. 127–181), wobei deren Bewegungsmuster durchaus von einem individuellen Ordnungswillen geprägt sind. Das Individuum entwirft sie jedoch zu keinem Zeitpunkt außerhalb des gemeinschaftlichen Raumes, in dem es schreibend operiert: »[…] il s’agit d’un lieu où s’exprime un collectif, certes revu à travers le filtre d’un moi, mais d’un moi qui ne s’envisage jamais hors d’une communauté« (S. 11).

Der zweite Teil der Studie betont die materielle Verfasstheit der ausgewählten Memoiren. Die Autorinnen und Autoren jonglieren nicht nur mit Familienfiguren, sondern ebenso mit Texten, Narrativen und Artefakten. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist das Schreiben immer schon eine Rekonfiguration von Elementen, die dem entstehenden Text vorgängig sind und dem familiären Umfeld entstammen, von der Genealogie über die Hagiografie und das Totengedenken bis hin zur Gemäldegalerie. Aus der intertextuellen bzw. intermedialen Perspektive tritt so im Spiegel der Memoiren ein Charakteristikum frühneuzeitlichen Schreibens insgesamt hervor, nämlich die ungezwungene Selbstverständlichkeit, mit der die eigene Komposition zum Palimpsest gerät.

»Le mémorialiste réactive les anecdotes entendues ou lues, retrace la généalogie, peint le portraits [sic !] de grandes figures familiales, rebâtit le patrimoine terrien de sa maison, décrit les lieux, paysages et domaines qu’on associe à son nom et s’ancre dans une réalité géographique, au fur et à mesure qu’il constitue à travers eux, ou bien floute, son portrait en enfant de famille. Loin d’être un rapporteur, il crée en recomposant« (S. 185).

Besonders eindrücklich sind die Ekphrasen der hauseigenen Gemäldegalerien in den Texten von Bussy-Rabutin und der Grande Mademoiselle (S. 304–309). Deren Memoiren sind zugleich ein gutes Beispiel für die Übersetzung der respektiven Genealogien in die narrative Ökonomie des Schreibens (S. 272–276). In beiden Fällen operieren die Schreibenden auf der Grundlage bereits vorhandener Repräsentationen ihrer Familien. Mit Blick auf ihre idealen Leserinnen und Leser konfigurieren sie jedoch das Vorhandene neu und aktualisieren das Familiengedächtnis aus ihrer eigenen Perspektive. Den Charakter eines Palimpsests haben die untersuchten Memoiren mithin in doppelter Hinsicht: Zum einen lassen sie ganz konkret andere Texte und Artefakte durch sich hindurchschimmern, zum andern handelt es sich um Superpositionen im Sinne Walter Benjamins – ein sozialer und literarischer Ort, an dem verschiedene Zeiten aufeinandertreffen. »Inscrit dans le groupe familial, le mémorialiste est tendu entre une famille présente – ses collatéraux, sa parenté contemporaine –, une famille passée – ses ancêtres – et une famille future – ses descendants. Ces trois niveaux de la famille forment le soubassement du récit mémorialiste« (S. 319).

Die Studie umfasst einen Untersuchungszeitraum von fast zweihundert Jahren, auf den sich die ausgewählten Memoiren gleichmäßig verteilen. Die im Titel überraschend allgemein gehaltene Bezeichnung noblesse – schließlich handelt es sich um ein von den jeweiligen Zeitgenossen als extrem differenziert wahrgenommenes System gesellschaftlicher Räume – wird durch das vielschichtige Korpus der analysierten Texte verständlich: Hier sind Autorinnen und Autoren aus Familien des Hochadels und aus Königshäusern ebenso vertreten wie Verfasserinnen und Verfasser von Memoiren, die einem vergleichsweise niederen Adel entstammen. Das Korpus berücksichtigt zudem unterschiedliche Subgenres (militärische, mondäne und religiöse Kontexte), die europäische Perspektive sowie das nahezu ausgewogene Verhältnis der Geschlechter, das im Zusammenhang mit Adelsmemoiren zu Recht besonders betont werden darf. Zahlreiche Fallbeispiele aus multiplen Kontexten unterstützen daher die grundlegende These dieser Studie, die sich abschließend noch einmal folgendermaßen formulieren ließe: Die écriture familiale dominiert als gattungsrelevantes Charakteristikum der Adelsmemoiren die von Fall zu Fall divergierende posture der Autorinnen und Autoren, die sich in erster Linie über ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe wahrnehmen, auch wenn sie dabei durchaus ihre eigenen Ziele verfolgen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Stephanie Bung, Rezension von/compte rendu de: Yohann Deguin, L’écriture familiale des Mémoires. Noblesse. 1570–1750, Paris (Honoré Champion) 2020, 374 p. (Lumière classique, 117), ISBN 978-2-7453-5374-0, EUR 55,00., in: Francia-Recensio 2023/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.2.96883