Der vorliegende Sammelband ist zugleich historiografischer Rückblick, Werkstattbericht und Desiderateschau zur Erforschung der reformatorischen Bewegung der Frühen Neuzeit. Die Beiträge gehen zurück auf eine Konferenz in Wolfenbüttel im Jahr 2016. Die Autorinnen und Autoren kommen aus dem englisch- und deutschsprachigen Raum und versammeln sich unter der Prämisse der sozialwissenschaftlichen Kulturgeschichte. Damit stehen Diskurse, Objekte und Rituale im Fokus, die in den vergangenen Jahrzehnten die insbesondere in Deutschland bis dahin vorherrschende kirchengeschichtliche Forschung zur Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit bereichert und um maßgebliche Horizonte erweitert haben.

Wie viel die Forschung dem englischsprachigen Raum verdankt, wird gleich zu Beginn im Beitrag von Charles Zika deutlich. Der Autor stellt insbesondere und zu Recht die bahnbrechenden Arbeiten von Robert Scribner heraus, der mit seinen Studien zu Flugschriften, Holzschnitten und der Ritualgeschichte für Generationen von Forschenden Türen geöffnet hat. Helmut Puff untersucht den Begriff der »Bedenkzeit«, die sich etwa Martin Luther vor seinem Bekenntnis zu seinen Schriften auf dem Wormser Reichstag ausbedungen hat. »Bedenkzeit« zu erbitten oder durchzusetzen stellte – in diesen wie in anderen Fällen – die Machtfrage: Wer kann Zeit geben, erweitern oder verkürzen? In einem spannenden Beitrag untersucht David M. Luebke anhand westfälischer Beispiele, wie sich Menschen unterschiedlicher, an sich oft schon komplexer Glaubenszugehörigkeiten Kirchen teilten oder zusammen – zumindest in manchen Teilen – darin Gottesdienst feierten.

Philip Hahn richtet den Blick auf ein noch eher unbestelltes Feld der Reformationsforschung: die Geschichte der Sinne in Theologie und Praxis, wobei sich letztere vor allem aus der Reichsstadt Ulm speist. Mit dem Gehörsinn im Speziellen befasst sich Francisca Loetz. Sie untersucht die Einführung und Entwicklung des Psalmensingens in den Gottesdiensten in Zürich im 17. Jahrhundert. Die visuelle Kultur untersucht Bridget Heal anhand der Illustrierungen von Lutherbibeln im 16. und 17. Jahrhundert. Die Autorin arbeitet heraus, dass die Bilder biblischer Szenen für die Betrachterinnen und Betrachter nicht nur liebgewonnene Tradition, sondern auch durchaus emotionaler Identitätsmarker wurden.

Ute Lotz-Heumann zeigt in ihrem Beitrag, dass im Zeitalter von Reformation und Gegenreformation nahezu alles konfessionalisiert werden konnte, auch Wasser, genauer gesagt Wasser mit zugeschriebenen Heilkräften. Während von Katholikinnen und Katholiken die Heilkraft einer Quelle dem Wirken etwa von Heiligen zugeschrieben wurde, stand bei Lutheranern die Heilwirkung von Wasser schlicht für sich – löste aber auch wahrhaftige Pilgerreisen zu den Quellen aus. Kaspar von Greyerz untersucht eine nach seinen Worten spezifisch protestantische Wissenschaftsform zwischen 1750 und 1760: Die Naturaltheologie, die Gott in den Wundern der Schöpfung zu beweisen suchte. Äußerst einsichtsreich – und auch für die politische Gegenwart relevant – studiert Kathleen Crowther die frühneuzeitlichen Diskussionen darüber, wann menschliches Leben im Mutterleib genau beginnt. Dabei stellt die Autorin fest, dass in diesen Debatten die Stimmen von Frauen fehlten. Männer rissen die Expertise über den Körper von Frauen an sich und stritten darüber, wie werdendes Leben in weiblichen Körpern zu beurteilen und zu behandeln sei.

Ein bislang ebenfalls wenig behandeltes Thema untersucht Susan C. Karant-Nunn: die persönliche Sexualität des Asketen Jean Calvin und dessen Predigten über Sexualität. Karant-Nunn attestiert Calvin eine fast schon mönchische Enthaltsamkeit, beschränkend auf das Nötigste (die Erhaltung des Menschengeschlechts). Ebenfalls Neuland betritt Alexandra Walsham mit ihrem Beitrag, indem sie das Stereotyp der durch die Reformation nur auf ihre Rolle in Haus, Erziehung und Ehe reduzierten protestantischen Frau aufweicht. Sie zeigt, dass Mütter ihren Kindern religiöses Wissen vermittelten und somit große Prägekraft auf ihre Kinder hatten. Ebenfalls mit der Geschlechterrolle befasst sich Merry E. Wiesner-Hanks in ihrem Text über die Rolle von Frauen in der Kulturgeschichte der globalen Reformation.

Renate Dürr vergleicht in ihrem Beitrag die Praxis der Übersetzung von Texten und den darin enthaltenen Konzepten: zum einen bei Luther mit seiner Übersetzung der lateinischen Bibel, zum anderen beim spanischen Jesuit José de Acosta bei seinen Aufenthalten in Übersee. Ulrike Strasser schließt den Sammelband mit der katholischen Mission auf den Marianeninseln im 17. Jahrhundert. Die dort tätigen Jesuiten trafen auf Jenseitsvorstellungen der Bewohner, die durchaus anschlussfähig an katholische Ideen waren – dennoch mündete die Mission in Gewalt.

Die Aufsätze zeigen, wie vielfältig die Kulturgeschichte der Reformation mittlerweile ist. Sie geben spannende Einblicke in die aktuellen Tendenzen und machen Lust auf die künftigen Forschungen, die in diesem dynamischen Feld zu erwarten sind.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Marc Mudrak, Rezension von/compte rendu de: Susan C. Karant-Nunn, Ute Lotz-Heumann (ed.), The Cultural History of the Reformations. Theories and Applications, Wolfenbüttel (Harrassowitz Verlag) 2021, 324 p., 29 fig. (Wolfenbütteler Forschungen, 164), ISBN 978-3-447-11469-1, EUR 68,00., in: Francia-Recensio 2023/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.2.96893