Auch wenn die Geschichte der Eroberung und Unterwerfung der Neuen Welten in den Amerikas noch immer als Heldengeschichte erzählt wird, so war die europäische Expansion des langen 16. Jahrhunderts durchaus mehr vom Scheitern als von spektakulären Siegeszügen einzelner Konquistadoren geprägt – ein Aspekt, auf den Simon Karstens schon in seiner umfangreichen, 2021 veröffentlichten Habilitationsschrift über »Gescheiterte Kolonien – erträumte Imperien«1 aufmerksam gemacht hat und den er im hier vorzustellenden Buch »Untergegangene Kolonialreiche. Gescheiterte Utopien in Amerika« aufgreift und vertieft.

Nach Aussage des Autors ist sein neues Werk ein unmittelbares Folgeprodukt seiner Habilitationsschrift von 2021. Entgegen der ursprünglichen Absicht, den Inhalt der Habilitation für ein breiteres Publikum lediglich »in sprachlich anderer Form« (S. 280) aufzubereiten, stellt der Autor nun allerdings in zwölf Einzelkapiteln (S. 19–283) koloniale Projekte in den Amerikas vor, die im 16. und frühen 17. Jahrhundert realisiert wurden, aber nur kurze Zeit Bestand hatten. Die Anordnung der einzelnen Kapitel, die jeweils gegliedert sind in eine konzise Darstellung und einen Abschnitt mit kommentierten Quellen- und Literaturhinweisen, folgt dabei – unter Durchbrechung der Chronologie – »der östlichen Küstenlinie des amerikanischen Doppelkontinents vom hohen Norden bis in den tiefen Süden« (S. 9): von der Baffin Insel im Norden des heutigen Kanada westlich von Grönland, wo der Freibeuter Martin Frobisher (1535?‑1594) auf der Suche nach der berühmten Nordwestpassage auf drei Seereisen (1576–1578) vergeblich versuchte, eine Siedlung aufzubauen (S. 19–37), bis Feuerland, eine durch die Magellanstraße von der Südspitze des amerikanischen Festlandes getrennte Inselgruppe, wo die vom spanischen Seefahrer Pedro Sarmiento de Gamboa (1532‑1592) gegründete Befestigung Don Rey Felipe nur wenige Jahre (1584–1587) existierte (S. 265–277). Zwischen diesen beiden Extrempunkten verteilen sich dann von Nord nach Süd die anderen gescheiterten Kolonialprojekte, die im Buch behandelt werden: im heutigen Kanada: Nouvelle France am St. Lorenz-Strom (1534‑1544 und 1600‑1617), Neufundland (1578‑1583) und die Acadie (1606‑1613); in den heutigen Vereinigten Staaten von Amerika (USA): Virginia (1571), North Carolina (1584‑1590) und Florida (1562‑1565); und schließlich in Südamerika: Venezuela als Kolonie des Augsburger Handelshauses Welser (1528–1556), Guayana (1595 und 1617) im Fokus von Walter Raleigh (1552?‑1618), France Équinoxiale (1612–1615) in Maranhão und France Antarctique (1565–1560) in der Bucht von Guanabara vor Rio de Janeiro. Abgerundet wird das mit 16 Abbildungen und zahlreichen farbigen Illustrationen versehene Werk von einer Zeittafel (S. 285‑287), dem Abbildungsverzeichnis (S. 288 f.) und einer Danksagung (S. 290 f.).

Das vorliegende Buch ist aber, wie aus dem instruktiven einführenden Kapitel (S. 5–17) hervorgeht, weitaus mehr als eine bloße enzyklopädische Sammlung von Fachartikeln zu kurzlebigen Kolonialreichen in der Neuen Welt. Der Autor nimmt uns mit auf »eine Reise zu historischen Schauplätzen, die sowohl Orte interkultureller Begegnung als auch des Untergangs europäischer Kolonialprojekte waren« (S. 279).

Sein besonderes Interesse bei den behandelten Kolonisationsunternehmungen gilt den jeweiligen Beziehungen zwischen Europäern und Indigenen – Beziehungen, die auf beiden Seiten von ganz unterschiedlichen Interessen und Erwartungen geprägt waren. Simon Karstens stützt sich in seiner Arbeit auf eine breite Quellengrundlage zeitgenössischer Berichte und Darstellungen unterschiedlicher literarischer Genres, die durchweg der geistigen Vorstellungswelt Europas verpflichtet sind. Zurecht weist Simon Karstens auf die Notwendigkeit hin, diese oftmals einseitigen, voreingenommenen und subjektiven Schriften einer umfassenden Quellenkritik zu unterziehen und im Lichte relevanter wissenschaftlicher Disziplinen (Geschichtswissenschaften, historische Literaturwissenschaften, Archäologie und Anthropologie) zu betrachten und zu verifizieren, um ihren historischen Aussagegehalt zu ermitteln. Und erst dann vermögen diese Quellen gelegentlich auch indigenen Akteuren eine Stimme zu geben, was umso wichtiger ist, als unmittelbare indigene Quellen über den Erstkontakt mit Europäern weitgehend fehlen.

Das etablierte Kolonialreich der Krone Spaniens, das in der Zeit der Iberischen Union (1580–1640) auch über das portugiesische Weltreich herrschte, diente den konkurrierenden französischen und englischen Propagandisten von Kolonialprojekten als Muster und Feindbild. Als Gegenmodell zum grausamen spanischen Herrschaftssystem entwarfen sie die utopische Vorstellung eines »idealen« Kolonialreiches: fruchtbar und ressourcenreich; wirtschaftlich vielversprechend und lukrativ; mit indigenen Bewohnern, die bereit waren, sich friedlich und ohne weitere Gegenwehr zu unterwerfen und freiwillig zum Christentum zu bekehren – die Utopie also einer neuen, besseren Gesellschaft der Zukunft in Übersee.

Die Perspektive des Scheiterns europäischer Expansions- und Eroberungspläne in den Amerikas korrigiert das traditionelle Narrativ des überlegenen europäischen Invasoren und Eroberers, macht die Indigenen wieder zu aktiven, selbstbestimmten Subjekten der Geschichte und wirft ein neues Licht auf die interkulturellen Beziehungen, die von entscheidender Bedeutung für das Gelingen oder Scheitern von kolonialen Projekten waren2 – ohne dabei allerdings die faktischen Ereignisse der Unterdrückung und Vernichtung der indigenen Völker ausblenden oder relativieren zu wollen. Die Indigenen »kannten die Ressourcen und Gefahren des Landes und waren als Verbündete überlebenswichtig. Ohne ihre Führung und Nahrungslieferungen konnte kein Stützpunkt etabliert werden und ihr aktiver oder passiver Widerstand war mehr als einmal stark genug, um selbst eine gut ausgerüstete Streitmacht zurückzuschlagen« (S. 8).

Die hier vorgestellten, heute weitgehend in Vergessenheit geratenen gescheiterten Kolonialprojekte schärfen zweifellos den Blick für die komplexen Prozesse, die bei der Eroberung der Neuen Welt im langen 16. Jahrhundert der europäischen Expansion wirksam waren. Insbesondere verleihen sie den an den Kolonialprojekten beteiligten Akteuren ein schärferes und differenzierteres Profil als es bislang vielfach der Fall war: während die »Helden«-Figur des europäischen Konquistadoren weiter an Glanz einbüßt, wird das Handeln der Indigenen – in den unterschiedlichen historischen Kontexten der behandelten Fallbeispiele – immer mehr zum entscheidenden Faktor, der über Erfolg oder Misserfolg von Kolonien entscheidet. Damit leistet diese Geschichte der »untergegangene[n] Kolonialreiche« einen wichtigen Beitrag zur Revision längst überfälliger eurozentrischer Sichtweisen. Leider stimmt die Zeittafel am Ende des Buches (S. 285–287) nicht immer mit den Daten im Darstellungsteil überein.

1 Simon Karstens, Gescheiterte Kolonie – Erträumte Imperien. Eine andere Geschichte der europäischen Expansion 1492–1615, Wien, Köln, Weimar 2021.
2 Laura Dierksmeier, Fabian Fechner, Kazuhisa Takeda (ed.), Indigenous Knowledge as a Resource: Transmission, Reception, ad Interaction of Kowledge between the Americas and Europe, 1492–1800/El conocimiento indígena como recurso: transmisión, recepción e interacción del conociiento entre América y Europa, 1492–1800, Tübingen 2021 (Ressourcenkulturen, 4).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Peter Mainka, Rezension von/compte rendu de: Simon Karstens, Untergegangene Kolonialreiche. Gescheiterte Utopien in Amerika, Köln, Weimar, Wien (Böhlau) 2022, 291 S., 16 Abb., ISBN 978-3-205-21471-7, EUR 39,00., in: Francia-Recensio 2023/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.2.96894