Sie zählen zu den ersten, die auf der Grundlage von Interviews eine Bewegung zu ergründen versuchten, die ziemlich lautstark und rücksichtslos ihr Recht auf individuelle Freiheit einklagt: Carolin Amlinger, Literatursoziologin, und Oliver Nachtwey, Soziologe, beide an der Universität Basel beschäftigt, werteten unter anderem eine Online-Umfrage unter mehr als 1150 Personen aus und führten über 60 Interviews mit Menschen aus der »Querdenken«-Szene und mit zivilgesellschaftlich aktiven AfD-Anhängerinnen und -Anhängern. Ihre empirischen Befunde haben sie nun, zusammen mit theoretischen Reflexionen, zu einem beeindruckenden Buch verdichtet. Und sie haben ihrem Untersuchungsgegenstand auch einen Namen gegeben: »libertärer Autoritarismus«. Diesen begreifen sie als »Symptom einer verdinglichten Freiheitsidee, mit der die Einsicht in soziale Abhängigkeiten abgewehrt werden soll. Freiheit ist in dieser Sichtweise kein geteilter gesellschaftlicher Zustand, sondern ein individueller Besitzstand« (S. 173). Mit Hilfe dieses Begriffs wollen sie erklären, warum Menschen, die »sich selbst als aufgeklärt und liberal beschreiben und die nicht selten über eine umfassende Bildung verfügen« (S. 9), sich Bewegungen wie »Querdenken« angeschlossen haben.
Ohne dies explizit zu verdeutlichen, haben Amlinger und Nachtwey ihr Buch zweigeteilt: einem ersten, eher theoretisch angelegten Teil folgt ein zweiter mit drei Fallstudien. In fünf Kapiteln entfalten sie zunächst ihre Überlegungen zum Freiheitsbegriff und einer »Kritik der Freiheit«, einschließlich eines kurzen Durchgangs durch die »Freiheitsmodelle der ersten Generation der Kritischen Theorie« (S. 44) von Adorno und Horkheimer bis Marcuse und Fromm. Ausführlich würdigen sie in diesem Kontext die von Adorno und anderen Mitte der 1940er-Jahre betriebenen Forschungen zum »autoritären Charakter«. Danach geht es um die »Dialektik der Individualisierung« (S. 57) und die Unterscheidung zwischen negativer und positiver Freiheit. Im dritten Kapitel analysieren sie die »Zwickmühlen der Individualität in der sozialen und politischen Dynamik spätmoderner Gesellschaften« (S. 19), hervorgerufen durch widersprüchliche Prozesse von Modernisierung und Gegenmodernisierung. Im vierten Kapitel wird das Problem sozialer Kränkung diskutiert, das daraus resultiere, dass sich hinter dem »Anspruch der Selbstwirksamkeit« eine »schleichende Ahnung der Ohnmacht« verberge (S. 131). Aus Ohnmachtsempfinden erwachsende Gefühle wie »Wut, Ressentiment, Neid oder Groll« sind für Amlinger und Nachtwey jedoch »keinesfalls subjektive Seelenzustände, sondern ein soziales ›Beziehungsgefüge‹, das durch den ›Vergleichs- und Relationszwang‹ der kapitalistischen Gesellschaft entzündet« werde (S. 153). Abschließend erläutern sie vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen nochmals den Begriff des »libertären Autoritarismus« und gehen insbesondere der Frage nach, wie erklärt werden könne, dass sich das »Ideal der Freiheit mit zutiefst illiberalen Ansichten und Praktiken« (S. 21) verbinde: »Das Versprechen uneingeschränkter Selbstentfaltung wird zur Kränkung, wenn es von der Gesellschaft nicht im erwünschten Sinn erfüllt wird« (S. 182).
Die Fallstudien des zweiten Teils machen aus zeithistorischer Sicht den besonderen Reiz des Buchs aus, werden dort doch zahlreiche neue empirische Befunde präsentiert. Im sechsten Kapitel wird demonstriert, wie prominente Intellektuelle in ein »regressives Fahrwasser« (S. 22) geraten können. Etablierte »Medienintellektuelle« verteidigten plötzlich »weniger die Freiheit, sondern die eigene Freiheit, auch weiterhin den Raum des Sagbaren festzulegen« (S. 219). Im siebten Kapitel stehen die Coronaproteste im Mittelpunkt. Mit den Freiheitsbeschränkungen mit dem Ziel der Eindämmung der Pandemie begannen auch die Proteste, deren Hotspot sich bald nach Stuttgart und in die dortige Initiative »Querdenken 711« verlagerte. In dieser Bewegung seien viele »disparate Ideologien und Strömungen« zusammengekommen mit einer sehr heterogenen Teilnehmerschaft, darunter »wohlsituierte Familien mit Kindern, altgewordene Hippies, Atomkraftgegnerinnen und Atomkraftgegner, Esoterikerinnen und Esoteriker und eben auch Rechte unterschiedlicher Couleur«. Ihr kleinster gemeinsamer Nenner: »Man bestritt die Gefährlichkeit des Virus und damit die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen« (S. 253). Außerdem einte die Protestierenden das Gefühl, »dass etwas nicht stimmt«. Ihre »persönliche Intuition« brachten sie gegen die »abstrakten, individuell nicht verifizierbaren Wissenschaften in Stellung« (S. 262). Paradoxerweise vertrauten sie gleichzeitig »alternativen Autoritäten« (S. 293) wie Daniele Ganser, Ken Jebsen oder Attila Hildmann – mit anderen Worten: »jeder könne Experte sein«, die »Demokratisierung des Wissens schlägt hier um in eine individuelle Anmaßung von Wissen« (S. 297). Abschließend analysieren die Autorin und der Autor den Typus des »regressiven Rebellen« als wohl »radikalste Ausprägung« (S. 25) des libertären Autoritarismus.
In ihrer kurzen Schlussbetrachtung betonen Amlinger und Nachtwey, dass sie diese neue Form des Autoritarismus keineswegs für ein temporäres Phänomen halten. Ganz ohne Hoffnung wollen sie ihre Leserinnen und Leser dennoch nicht zurücklassen. Wenn die Politik sich darauf besinne, Entscheidungen auf der Basis zuvor offengelegter Alternativen zu treffen, und auch den Mut zur Selbstkritik aufbringe, und wenn es überdies gelinge, ein »erneuertes Verständnis von Individualismus« (S. 353) zu entwickeln – dann könnten die aktuellen Probleme bewältigt werden. Zugegeben, keine geringe Aufgabe. Aber dieses sachlich und nüchtern argumentierende, kluge Buch hilft, die Probleme zu verstehen und nach Lösungen zu suchen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Werner Bührer, Rezension von/compte rendu de: Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey, Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus, Berlin (Suhrkamp) 2022, 478 S., ISBN 978-3-518-43071-2, EUR 28,00., in: Francia-Recensio 2023/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.2.96933