Wer sich für die Anfänge des Deutschen Bundestags interessiert, wird schnell feststellen, dass es sich um einen lohnenden, weil vielschichtigen, Untersuchungsgegenstand handelt. In kulturgeschichtlicher Perspektive sind die unterschiedlichsten Fragestellungen möglich: Die Parlamentarismusforschung trifft auf Literatur-, Architektur- oder Geschlechtergeschichte, auf Sound History1 ... In ihrem Buch, das auf eine 2017 bei Hélène Miard-Delacroix an der Université Paris-Sorbonne entstandene und von der Assemblée nationale preisgekrönte Dissertation zurückgeht, widmet sich Agathe Bernier-Monod einer weiteren, bisher unbeachtet gebliebenen Facette der (west-)deutschen Parlamentarismusgeschichte, nämlich jenen Abgeordneten, die sowohl vor 1933 im Reichstag als auch nach 1949 im Bundestag saßen. Für die erste und die zweite Wahlperiode, die in ihren Augen eine Art Pilotphase darstellen und sich daher von den späteren Wahlperioden unterscheiden, kommt die Autorin auf 34 frühere Mitglieder des Reichstags (MdR), darunter vier Frauen (Maria Ansorge, Marie-Elisabeth Lüders, Louise Schroeder, Helene Weber). Vertreten sind aus der Weimarer Zeit u. a. die Parteien SPD, DDP, Zentrum, DNVP und KPD, aus dem bundesdeutschen Parteienspektrum SPD, CDU und CSU, FDP und KPD. Es ist eine kleine Gruppe, deren Anteil an der Gesamtzahl der Abgeordneten sich 1949–1953 auf 6,8 Prozent und 1953–1957 auf 3,7 Prozent belief. Es erscheint allerdings fraglich, ob Theodor Heuss, der nur einige Tage als MdB fungierte, bevor er am 12. September 1949 zum Bundespräsidenten gewählt wurde, wirklich dazu gezählt und zur Untermauerung mancher These herangezogen werden sollte.

Ausgehend von der Feststellung, dass trotz der Allgegenwart des »Weimar-Komplexes« in der politischen Kultur der frühen Bundesrepublik2 diesen Frauen und Männern noch nie die Aufmerksamkeit geschenkt worden war, die ihnen gebührt, geht Agathe Bernier-Monod der Frage nach, welchen Beitrag sie zur Gründung der westdeutschen Demokratie geleistet haben. Warum suchten sie nach den zwölf Jahren nationalsozialistischer Diktatur, die sie höchst unterschiedlich erlebt oder überlebt hatten, den Weg zurück in die Politik? Wie ist es ihnen gelungen, wieder gewählt zu werden, wo doch viele andere, die den gleichen Wunsch hegten, gescheitert sind? Wie haben sie sich im parlamentarischen Alltag eingebracht? Welche Schwerpunkte haben sie gesetzt? Mit welchem Erfolg? Eine Fülle unterschiedlicher Quellen ermöglicht es der Autorin, Antworten zu liefern: Nachlässe, veröffentlichte und unveröffentlichte Ego-Dokumente, Presseartikel und nicht zuletzt die Stenografischen Berichte der Reichstags- und Bundestagssitzungen.

Die Darstellung ist zweiteilig und chronologisch angelegt. Der erste Teil befasst sich mit der Tätigkeit der 34 Politikerinnen und Politiker als Reichstagsabgeordnete bis 1933 (Kapitel 1), mit ihrer Positionierung gegenüber dem Aufstieg und der Machtübernahme der NSDAP, insbesondere mit ihrer Haltung zum Ermächtigungsgesetz des 23. März 1933 (Kapitel 2), mit ihrem Werdegang bzw. Schicksal im »Dritten Reich« (Kapitel 3), mit den Vorbereitungen einiger von ihnen »für die Zeit danach« (Kapitel 4). Der zweite Teil widmet sich dann ausführlich den Jahren nach 1945: Der Schilderung des politischen Wirkens der 34 ehemaligen MdR während der Besatzungszeit (Kapitel 5) folgt die Analyse ihrer Rückkehr in ein demokratisch gewähltes Parlament (Kapitel 6) und ihres Umgangs mit dem Weimarer Erbe (Kapitel 7).

Über den Titel, »Les fondateurs«, ließe sich lange streiten. Er insinuiert, dass diese 34 Männer und Frauen die eigentlichen Gründerinnen und Gründer der Bundesrepublik gewesen seien, was auf der Rückseite des Buchumschlags dann auch unmissverständlich steht: »une poignée d’hommes et de femmes politiques [...] entreprit de rebâtir les institutions«. Wo bleiben die Westalliierten und die anderen deutschen Politiker (und wenigen Politikerinnen), die vor 1933 zwar nicht im Reichstag saßen, jedoch politisch aktiv waren (Konrad Adenauer, Helene Wessel)? Wo sind diejenigen, die zwar erst nach 1945 die Bühne betraten, von da an aber das politische und institutionelle Leben Westdeutschlands maßgeblich beeinflussten (Carlo Schmid)? Auch im Hinblick auf die Einschätzung der Gruppe selbst vermag der Titel nicht zu überzeugen. Er verleitet zu der Annahme, dass deren Mitglieder nach 1949 eine besonders wichtige Rolle gespielt hätten. Tatsächlich legt die Darstellung jedoch eher das Gegenteil nahe: Immer wieder beklagten mehrere der 34 Männer und Frauen, dass sie sich nicht im Einklang mit den anderen Parlamentarierinnen und Parlamentariern, die sie für unerfahren hielten, und mit der neuen parlamentarischen Kultur im Allgemeinen fühlten. Den »Weimarern« haftete vielmehr der Makel des Scheiterns der Republik an, als dass ihnen ihre Demokratieerfahrung hoch angerechnet worden wäre. Die Pläne für die Zukunft, die einige um 1945 entwarfen, wurden in keiner Weise von den Alliierten berücksichtigt ... Zwei Bezeichnungen, die Agathe Bernier-Monod verwendet, hätten sich, so scheint mir, viel besser als Titel geeignet: entweder »Die Tempelwächter« (S. 220) oder »Von einer Republik zur anderen« (S. 269).

Diese Kritik ändert nichts an dem Gesamteindruck, dass eine hoch spannende Kollektivbiografie entstanden ist. Dies liegt zum einen an den einzelnen Parlamentarierinnen und Parlamentariern, die sich aufgrund ihrer eben nicht geradlinigen politischen Laufbahn als besonders interessant erweisen, zum anderen an der Zusammensetzung der Gruppe, die ihren Ursprung in der gemeinsamen Zugehörigkeit zu zwei Parlamenten hat, ansonsten aber parteipolitisch, altersmäßig und sogar in Bezug auf die parlamentarische Erfahrung – manche saßen länger im Reichstag als im Bundestag, andere länger im Bundestag als im Reichstag, bei den Dritten hält sich dies die Waage – recht heterogen ist. Und schließlich liegt es an der Autorin selbst, der es dank einer klaren und empathischen Sprache gelungen ist, ihre Studie mit Leben zu füllen.

Agathe Bernier-Monod schließt zweifelsfrei eine Forschungslücke. Ihr Buch ist darüber hinaus für alle (kollektiv )biografischen Forschungsvorhaben unerlässlich, in denen es um eine bestimmte Parlamentarierin oder einen bestimmten Parlamentarier oder um eine Untergruppe wie z. B. die weiblichen Abgeordneten geht. Es wäre daher sehr zu begrüßen, wenn durch eine baldige Übersetzung ins Deutsche auch ein nicht-französischsprachiges Publikum erreicht werden könnte.

1 Vgl. u. a. Benedikt Wintgens, Treibhaus Bonn. Die politische Kulturgeschichte eines Romans, Düsseldorf 2019 und Tobias Kaiser, Andreas Schulz (Hg.), »Vorhang auf!«. Frauen in Parlament und Politik, Düsseldorf 2022.
2 Vgl. hierzu Sebastian Ullrich, Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2009.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Muriel Favre, Rezension von/compte rendu de: Agathe Bernier-Monod, Les fondateurs. Reconstruire la République après le nazisme, Lyon (ENS Éditions) 2022, 294 p. (Sociétés, espaces, temps), ISBN 979-10-362-0524-8, EUR 26,00., in: Francia-Recensio 2023/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.2.96944