Die Relevanz des Sports als »a system of meaning through which we know the world« (Jeffrey Hill) wird niemand mehr ernsthaft bestreiten. Die Mobilisierungskraft des modernen Sports, der sich seit den Anfängen des massenkulturellen Zeitalters um 1850 auszubilden begann und seitdem mehrere quantitative und qualitative Schübe hin zu einem planetaren Phänomen und Bedeutungsfeld erfuhr, war stets gewaltig. Eine enorme soziale Nachfrage entstand nach sportlichem Spektakel durch Andere wie auch nach eigener sportlicher Betätigung in allen erdenklichen Formen, vielfach geknüpft an persönliche Vorlieben, Lebensstile und Identitätsentwürfe. Im Zusammenspiel diverser Akteure – Sportler und Anhänger, Politiker und Funktionäre, Unternehmer und Medienmacher etc. – hat der Sport maßgebliche Trends des politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Alltags und Wandels seit Mitte des 19. Jahrhunderts zugleich beeinflusst und reflektiert. Steht somit die Frage nach der Relevanz des modernen Sports kaum mehr zur Debatte, so stellt sich doch nach wie vor die Frage nach der Legitimität von Sportthemen für die Geschichtswissenschaft, zumindest in Deutschland und Frankreich. Über Jahre und Jahrzehnte war hier wie dort zu konstatieren, dass professionelle Historikerinnen und Historiker allem Populär- bzw. Massenkulturellen – und damit auch dem Sport, besonders dem Fußball – mit schroffer Ablehnung begegneten.
Anders als in Großbritannien, wo die Fußballgeschichtsschreibung schon früh »akademische Würden« erlangte, begannen sich die Dinge im deutsch- und französischsprachigen Raum erst seit den späten 1980er-Jahren zu ändern. Die Gründe waren vielfältig. Mehr noch als zuvor eroberte damals Sport – und an vorderster Front wieder Fußball – in Spitze und Breite den Planeten: Professionalisierung, Kommerzialisierung, Medialisierung, Verdichtung und Globalisierung der Wettkämpfe traten in eine neue Wachstumsphase. Auch das akademische Feld wandelte sich und eine jüngere Generation mit geringeren Berührungsängsten rückte auf universitäre Posten vor. Hinzu kamen wissenschaftliche Paradigmenwechsel und eine modern(isiert)e Kulturgeschichte, die Massensport und Populärkultur ernster nahm, vorbehaltsfreier erforschte und deren umfassende Erkenntnispotenziale betonte. Tatsächlich hat sich der fachdisziplinäre Umgang in den 2000er-Jahren weiter normalisiert. Auch deutsche und französische Forscherinnen und Forscher schickten sich mehr und mehr an, den fußballerischen Weg vom »›Proletensport‹ zum ›Kulturgut‹« (Gunter Gebauer) kritisch zu begleiten. Und doch – bei allen Fortschritten – bleibt eine gewisse Diskrepanz unübersehbar zwischen der Einsicht, Fußball sei ein mächtiges Gesellschaftsphänomen und legitimes Untersuchungsobjekt, und einem recht überschaubaren historiografischen Output.
Umso erfreulicher, dass mit der Revue »Football(s)« nunmehr im regelmäßigen halbjährlichen Turnus eine Zeitschrift erscheinen wird, die einerseits die Geschichte des Fußballs und verwandter Ballsportarten in den Blick nimmt und andererseits als Forum und Plattform für fußballhistorische Trends, Debatten und Kontroversen dienen soll. Im Zentrum stehen dabei nicht »unschuldige«, »harmlose« fußballerische Gesten, Bewegungen und Techniken, sondern – ganz im Sinne des Revue-Untertitels – Fußball als »phénomène social total« (Marcel Mauss) mit seiner kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aussagekraft weit über den Sport als solchen hinaus. Und dies weltweit: Denn auch wenn »Football(s)« französischsprachig daherkommt, wird Fußball als globales Phänomen des langen 20. Jahrhunderts thematisiert. Den markant internationalen Anstrich der Zeitschrift dokumentieren nicht zuletzt die Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats sowie das gute Dutzend an correspondants étrangers, denen die Aufgabe zufällt, historiografische Schlaglichter auf andere Länder zu werfen. Verantwortet wird »Football(s)« von Paul Dietschy, einem der renommiertesten Historiker überhaupt auf diesem Gebiet, zugleich Direktor des Centre Lucien Febvre an der Université Bourgogne Franche-Comté in Besançon, an dem die Zeitschrift auch redaktionell betreut wird.1
Das Konzept sieht einen thematischen Schwerpunkt und feste, durchaus originelle Rubriken pro Heft vor: z. B. findet sich unter dem Stichwort grands témoins ein transkribiertes Zeitzeugengespräch mit dem früheren Nationaltrainer Michel Hidalgo (1976–1984) aus dem Jahr 2014 abgedruckt, unter patrimoine footballistique ein Essay über das Centenario-Stadion in Montevideo, unter classiques du football eine Nachbetrachtung zu Alfred Wahls fußballhistorischem Pionierbuch »Les archives du fooball« von 1989 oder unter correspondances de l’étranger prägnante Beiträge über Fußball und Vaterland in Argentinien, über das Museum des brasilianischen Fußballs in São Paulo, über das Wiedererstarken der Fußballgeschichtsschreibung in Italien oder das nationale Gedenken an die WM-Qualifikation Perus im Jahre 1970. Auch nicht fehlen darf ein Rezensionsteil (médiathèque), der neben Besprechungen zu wissenschaftlichen Werken auch solche zu fußballhistorischen Comics oder Filmen beinhaltet. Den thematischen Schwerpunkt der im Herbst 2022 veröffentlichten ersten Nummer von »Football(s)« bilden Spitzensport-Großereignisse: die Weltmeisterschaften, zu denen die Zeitschrift neun Artikel unter dem Titel »La Coupe du monde dans toutes ses dimensions« bietet. Didier Rey beschäftigt sich mit fußballbezogenen Briefmarken im Umfeld der WM 1934 in Italien und 1938 in Frankreich, Joris Vincent mit der Begründung der ersten Rugby-WM 1987 und Xavier Breuil mit den Weltmeisterschaften im Frauenfußball, seit 1970 unter der Ägide eines in Turin ansässigen Internationalen und Europäischen Frauenfußballverbandes (FIEFF), seit 1991 dann unter Schirmherrschaft des Weltfußballverbandes (FIFA).
Das Gros der neun Artikel beleuchtet Facetten der seit 1930 ausgetragenen Fußball-WM der Männer. Christian Bromberger und Paul Dietschy diskutieren die fußballerischen, vor allem aber die politischen, menschenrechtlichen und ökologischen Grundprobleme eines WM-Gastgeberlandes im Nahen Osten über den Fall Katar hinaus; Luc Arrondel und Richard Duhautois fragen, für wen eigentlich eine Fußball-WM ein gutes Geschäft war (und ist), und benennen vorrangig die FIFA selbst, da der Wettbewerb rasch deren Haupteinnahmequelle ausmachte und aus einer organisationsschwachen und chronisch klammen Struktur seit den 1970er-Jahren einen global player entstehen ließ, und dies nicht nur in der Sportwelt. Patrick Mignon betrachtet das Spannungsverhältnis von Sport und Politik, von Spitzenfußball und republikanischem Modell in Frankeich seit den 1890er-Jahren, nicht zuletzt mit Blick auf das meritokratische Integrations- und Aufstiegsversprechen für soziale oder ethnische Minderheiten. Romain Gardi skizziert die kontroversen Debatten über einen passenden erfolgreichen Spielstil für die équipe tricolore im Kontext der WM 1934 und der WM 1938. Olivier Chovaux schildert die Rolle und das Selbstverständnis der unparteiischen hommes en noirs in der bisherigen WM-Geschichte sowie den Wandel von Regelwerken und Praktiken im internationalen Schiedsrichterwesen. Albrecht Sonntag setzt sich mit dem vielgestaltigen Erbe der »Sommermärchen-WM« 2006 in der Bundesrepublik auseinander, mit innovativen Momenten und Effekten einerseits, mit gewissen Grauzonen wissenschaftlicher wie offizieller Bilanzen andererseits.
Alles in allem vermag das erste Heft von »Football(s)« die selbst gestellten Ansprüche souverän einzulösen und einen bunten Strauß an nachdenklich-kritischen Einblicken und spannenden Einsichten in die facetten- und erkenntnisreiche Welt des (Fußball-)Sports und dessen Geschichte darzubieten. Als eine Fundgrube für alle, die über modernen Sport im langen 20. Jahrhundert sowie damit zusammenhängende sozioökonomische und soziokulturelle Transformationsprozesse forschen, wendet sich die Zeitschrift zugleich an fußballinteressierte Nichtwissenschaftlerinnen und Nichtwissenschaftler. Die Beiträge sind durchweg fundiert und quellenbasiert, zugleich pointiert, gut formuliert und leserfreundlich aufbereitet: selbst die längeren Artikel umfassen in der Regel 8, 10, 12 Seiten und dringen rasch zum Kern der Argumentation vor. Leserinnen und Leser dürfen gespannt sein auf die Folgenummern, Heft 2 liegt seit kurzem vor mit einem Dossier zu »Le football anglais entre ›people’s game‹ et ›global game‹«.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Dietmar Hüser, Rezension von/compte rendu de: Paul Dietschy (dir.), La Coupe du monde dans toutes ses dimensions, Besançon (Presses universitaires de Franche-Comté) 2022, 224 p. (Football[s]. Histoire, culture, économie, sociétés, 1), ISBN 978-2-84867-940-2, EUR 20,00., in: Francia-Recensio 2023/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.2.96950