Wollte man die Dynamik der Dritten Französischen Republik von der Belle Époque bis zu ihrem traurigen Ende 1940 schreiben, so würde Alexandre Millerands Lebenslauf interessierten Historikerinnen und Historikern nahezu unerschöpfliche Anknüpfungspunkte bieten: Er war erster sozialistischer Minister Frankreichs, Kriegsminister direkt vor und während der ersten Phase des Ersten Weltkriegs, Generalkommissar im wiedergewonnenen Elsass-Lothringen nach 1918, Ministerpräsident, Staatspräsident und schließlich bis zum Zweiten Weltkrieg Senator. Dennoch ist er weit davon entfernt, den Bekanntheitsgrad anderer zentraler Akteure dieser Jahre zu erreichen. Auch die geschichtswissenschaftliche Betrachtung hat ihm neben Figuren wie Georges Clemenceau, Raymond Poincaré oder Aristide Briand zu wenig Beachtung geschenkt – zumindest ist das die Ausgangsthese Jean-Philippe Dumas in der von ihm vorgelegten Biografie1.
Auf 325 Seiten (plus Anhang) schildert Jean-Philippe Dumas streng chronologisch das Leben des französischen Politikers. In 14 Kapiteln widmet er sich zunächst Kindheit und Studium (S. 15–30), dann den ersten Jahren als Anwalt sowie den ersten politischen Schritten als Stadtrat in Paris und junger Abgeordneter (S. 31–50). Es folgen seine Hinwendung zum Sozialismus, sein Einsatz für Arbeiterrechte und sein Engagement in der Dreyfus-Affäre (S. 51–76), seine Amtszeit als Handels- und Industrieminister unter Pierre Waldeck-Rousseau 1899–1902 (S. 77–98), seine Beteiligung am Richtungsstreit innerhalb des französischen Sozialismus auf Seiten Jean Jaurès‘ (S. 99–114). Die folgenden Kapitel behandeln seine Amtszeiten als Minister für öffentliche Bauten und Kriegsminister vor 1914 (S. 115–136), seine erneute Amtszeit als Kriegsminister 1914–1915 und seine Rolle bei der Organisation der Kriegswirtschaft (S. 137–166), seine Zeit als Chef des commissariat général de la République in Straßburg 1919 sowie als Ministerpräsident 1920 (S. 167–184). Ein weiteres Kapitel widmet sich Millerands Rolle als Ministerpräsident bei der Suche nach einer neuen europäischen und globalen Friedensordnung (S. 185–213), bevor Kapitel 10 und 11 ausführlich Millerands Präsidentschaft 1920–1924 beleuchten (S. 213–266). Die letzten Kapitel behandeln Millerand als Senator 1925–1940 (S. 267–290), seine letzten Jahre als Privatmann im État français (S. 291–302) sowie seinen Tod 1943 und sein Nachwirken (S. 303–312).
Positiv hervorzuheben ist die Detailarbeit Dumas‘. Für die Biografie hat er die umfangreichen, bislang nur teilweise erschlossenen Archivbestände und Nachlässe Millerands in den Archives nationales sowie den Archives diplomatiques ausgewertet. Auf dieser breiten Basis kann er vor allem die politische Laufbahn Millerands dicht nacherzählen. Dabei wirft er immer wieder interessante Seitenblicke etwa auf dessen Rhetorik, wichtige Reden oder Reformvorhaben. So zeichnet er ein detailliertes Bild der politischen Karriere Millerands, das durch andere Aspekte wie seine Tätigkeit als Anwalt oder sein Privatleben ergänzt wird.
Diese dichte Beschreibung hat allerdings auch Nachteile: Dumas beschränkt sich über weite Strecken auf die Erzählung des Lebenslaufs. Historische Kontexte werden nur knapp ausgeführt. Diese Reduzierung der Kontextualisierung auf das absolut notwendige Minimum führt dazu, dass das Handeln Millerands in einigen Passagen im luftleeren Raum stattzufinden scheint und über Psychologisierungen erklärt wird. Gerade bei seinem Handeln als Staatsmann kommt die Betrachtung von Interaktionen mit anderen institutionellen oder individuellen Akteuren vergleichsweise kurz. Diese wären aber für die Beurteilung der politischen Prozesse essenziell. Gerade vor dem Hintergrund der detaillierten Quellenbasis vergibt Dumas die Gelegenheit, die wendungsreiche Karriere Millerands stärker auf ihre Aussagekraft hinsichtlich der Entwicklung der Dritten Republik zu befragen. Der weitere Blickwinkel hätte dabei auch Elemente der persönlichen Entwicklung Millerands – etwa seinen Wandel vom Sozialisten zum moderaten Konservativen – erhellen können, die Dumas zwar erzählerisch nachvollzieht, aber nicht erklärt.
Immer wieder fehlt Dumas auch der Abstand zu seinem Gegenstand. Er schreibt gegen die seiner Meinung nach zu negative Bewertung Alexandre Millerands an (S. 9–12). Entscheidungen und Reformideen werden dadurch sehr positiv, seine Gegner dagegen – allen voran sein politischer Konkurrent Aristide Briand – regelmäßig negativ beurteilt. Dabei bedient sich Dumas einer zum Teil normativ gefärbten Sprache. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass sich Dumas stark auf Millerands unveröffentlichte Memoiren stützt, die dieser in den letzten Jahren seines Lebens verfasst hat2. Dabei übernimmt er oft die retrospektiven Einschätzungen Millerands, ohne die Quelle auf ihre Verlässlichkeit zu befragen. In der Kombination mit der reduzierten Kontextualisierung entsteht dabei das Bild eines Mannes, der einen Blick für nahezu alle Probleme der Zeit hatte und der viele davon auch zu lösen verstanden hätte, wenn man ihn gelassen hätte – ein Urteil, das vor allem in Bezug auf konflikthafte Politikfelder wie beispielsweise die Elsasspolitik oder die französische Mandatspolitik in Syrien verkürzt bis fragwürdig erscheint. Diese Art der Darstellung mag auch zum Teil dem Format spezifisch französischer Biografik geschuldet sein, aus historiografischer Perspektive wirkt es dennoch befremdlich.
So bleibt unterm Strich eine Biografie, die mit zahlreichen wertvollen Informationen über das Leben Alexandre Millerands aufzuwarten weiß, deren historischer Mehrwert darüber hinaus allerdings begrenzt bleibt.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Sebastian Petznick, Rezension von/compte rendu de: Jean-Philippe Dumas, Alexandre Millerand. Un combattant à l’Élysée, Paris (CNRS Éditions) 2022, 379 p. (Bibliothèque allemande, Série Philia), ISBN 978-2-271-11600-0, EUR 26,00., in: Francia-Recensio 2023/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.2.96955