Bei einer Wanderung auf dem GR 5 durch die Vogesen stößt man nicht nur auf Spuren des Ersten Weltkrieges, auf verrosteten Stacheldraht und eingestürzte Schützengräben, sondern auf einsamen Höhenwegen auch auf alte, verwitterte, zum Teil überwachsene oder umgestürzte Grenzsteine, auf deren entgegengesetzten Seiten jeweils ein D und ein F eingraviert ist. Es handelt sich dabei um materielle Überreste einer zeitgenössisch aufwändig markierten und aufmerksam kontrollierten Grenze zwischen dem 1871 errichteten Reichsland Elsass-Lothringen und Frankreich. Diese Grenze war zunächst im Versailler Präliminarfrieden im Februar 1871 auf dem beigefügten Kartenmaterial grün eingezeichnet und im Artikel 1 detailliert beschrieben worden: »Die Demarkationslinie beginnt an der nordwestlichen Grenze des Kantons Cattenom gegen das Großherzogthum Luxemburg, folgt südwärts […] und erreicht die Schweizergrenze, indem sie längs der Ostgrenze der Gemeinden Jonchery und Delle hinläuft«. Eine gemeinsame deutsch-französische Grenzkommission, bestehend aus Ingenieuren, Kartografen, Geografen und Landvermessern, brauchte mehrere Jahre bis 1877, bis diese 285 Kilometer lange Grenzlinie auch in der realen Landschaft sichtbar geworden war: Zunächst durch Grenzpfähle und -zeichen, später dann durch eine systematische »Versteinerung« mit circa 4000 durchnummerierten Grenzsteinen. Doch damit war diese Arbeit nicht getan: Eine gemeinsame Grenzregulierungskommission musste sich die nächsten Jahrzehnte um die Instandhaltung der Steine kümmern, regelmäßige Inspektionsreisen unternehmen und darüber zweisprachige Protokolle anfertigen – die Grenzsteine symbolisierten daher einerseits die Trennlinie zweier mehr oder weniger verfeindeter Nationen, andererseits zwangen sie aber zu einvernehmlicher Zusammenarbeit.
In ihrer Göttinger Dissertation von 2020: »Zwischenfälle im Reichsland: Überschreiten, Polizieren, Nationalisieren der deutsch-französischen Grenze (1887–1914)« (Betreuerinnen waren Rebekka Habermas und Iris Schröder), beschreibt Sarah Frenking detailliert den Alltag an dieser nationalen Grenze am Beispiel der 1887 eingerichteten Grenzpolizeistelle Altmünsterol (heute Montreux-Vieux) im Oberelsass, eine von zunächst fünf, später neun Grenzpolizeistellen in Elsass-Lothringen. Diese neuartige Institution staatlicher Kontrolle war eine Reaktion auf die Zuspitzung des deutsch-französischen Gegensatzes in den Jahren des aggressiven Revanchismus des französischen Kriegsministers Boulanger 1886/1887, wurde jedoch auch Vorbild für die Ausgestaltung der deutschen Reichsgrenze im Osten. Frenking untersucht in ihrer kulturhistorischen Dissertation den Zusammenhang von Grenzen und Nationsbildung, ihr zentrales Anliegen ist es, »den Prozess des border making auf verschiedenen Ebenen und aus verschiedenen Perspektiven nachzuzeichnen und nach der Bedeutung des Nationalen für territoriale Praktiken und die Wahrnehmung der Grenze zu fragen« (S. 34). Sie betont, dass die zunächst lediglich auf dem Papier fixierten Grenzen erst durch ein vielfältiges Zusammenspiel unterschiedlichster Akteure (vor allem den Grenzbeamten und den Grenzgängern) soziale Realität wurden.
Frenking interessiert sich in ihrer Studie weniger für die nationale politische Ebene der deutschen Westgrenze. Sie nimmt stattdessen mit einem mikrohistorischen Ansatz exemplarisch das alltägliche Geschehen an der kleinen Grenzstation Altmünsterol genau in den Blick, achtet auf den dortigen Aushandlungscharakter der Grenze, trägt dem Eigensinn der polizierten Grenzgänger Rechnung und will mit dieser Methode im Sinne einer »histoire croisée« und einem »jeux d’échelles« dem Lokalen im (Trans)Nationalen und dem (Trans)Nationalen im Lokalen nachspüren (S. 28). Ihre zentrale Quelle hierfür sind die Berichte der Altmünsteroler Grenzpolizeibeamten an die übergeordnete Behörde, die neben ihrem eigentlichen administrativen Zweck zugleich auch als Ego-Dokumente des jeweiligen Beamten gelesen werden können. Ergänzend wird von ihr mittels der in den Departementsarchiven vorgefundenen Zeitungsausschnittsammlungen die öffentliche Wahrnehmung dieser Grenze in Deutschland und Frankreich thematisiert.
Ihr Buch ist in zwei unterschiedlich große Teile gegliedert. Zunächst bekommen die Leserinnen und Leser im ersten Teil auf circa 100 Seiten einen Überblick über die materielle Gestaltung der Grenze und die diese markierenden Objekte – wie die bereits erwähnten Grenzsteine und weitere, mit nationalen Hoheitszeichen versehenen hölzerne oder wie im deutschen Fall gusseiserne Grenzpfähle, die in dieser dauerhaften Form nur an der westlichen Reichsgrenze existierten. Anschließend stellt sie den räumlichen Ort der Grenzkontrolle in Altmünsterol und ihre dort tätigen Beamten in den Jahren seit 1887 vor. In dem deutlich umfangreicheren zweiten Teil schildert Frenking auf circa 260 Seiten den Alltag an der Grenze und seine öffentliche Wahrnehmung, die Geschichte des massenhaften Kontrollierens und Identifizierens, der Befragungen, des Zurückweisens oder der Erlaubnis zum Überschreiten der Grenze.
Sie unterscheidet dabei fünf verschiedene Grenzgängergruppen: Die ansässige Grenzbevölkerung, für die die neue politische Grenzsetzung oftmals traditionelle soziale, wirtschaftliche und religiöse Verbindungen trennte, was vor allem in den Anfangsjahren zu zahlreichen, eher harmlosen Grenzzwischenfällen führte; zu dieser Gruppe zählt sie auch die einheimischen touristischen Grenzgänger des Reichslandes, für die der Besuch und das Überschreiten der Grenze (vor allem am Touristen-Hotspot Col de la Schlucht) ein aufregendes Erlebnis war, von dem dann mittels einer Postkarte nach Hause berichtet wurde. Die Einführung des Passzwangs in den Jahren 1888 bis 1891 führte bei der zweiten Gruppe der Durch- und Einreisenden zu zahlreichen Protesten, da die Kontrolle der Identität mittels eines Lichtbildausweises als diskriminierend, anachronistisch und einem modernen Staatenleben fremd angesehen wurde. Die Grenze in ihrer undurchdringlichen, abweisenden Form erfuhr die dritte Gruppe der zeitgenössisch unerwünschten Reisenden, vor allem die auf beiden Seiten der Grenze diskriminierten »Landstreicher, Bettler, Zigeuner«: Hier konnte es immer wieder passieren, dass diese Personen im Grenzraum festgesetzt wurden, weil sie für keine Seite der Grenze eine Einreisegenehmigung erhielten. Die in beiden Nationen grassierende Angst vor Spionen machte sich vor allem in den Grenzräumen bemerkbar; hier galt es, als vierte Gruppe, verdächtige Personen oder sogar ganze Nachrichtennetzwerke rechtzeitig zu entlarven. Zuletzt widmet sich Frenking den Grenzüberschreitungen durch Soldaten, die sich oftmals im Zusammenhang mit Militärmanövern ereigneten, sowie mit der aufkommenden Luftfahrt der Verletzung der Grenze im Luftraum.
In den Berichten der Grenzpolizeibeamten finden sich eher Grenzzwischenfälle als der normale Grenzalltag wieder; dasselbe gilt für die deutsche und französische Medienberichterstattung, die vor allem über skandalöse Fälle informierten. Internationale Aufmerksamkeit bis hin zu Kriegsrhetorik erregte 1887 die »Schnäbele-Affäre«, als der im Grenzgebiet stationierte französische Kommissar Guillaume Schnaebelé anlässlich einer Dienstbesprechung auf deutschem Boden (es ging um die Reparatur eines umgeworfenen Grenzpfahls) unter Spionageverdacht festgenommen und nach heftigsten Protesten der Pariser Regierung und der Intervention Berlins nach drei Tagen wieder freigelassen und über die Grenze abgeschoben wurde.
Der Versuch Frenkings, die in der Forschungsliteratur (insbesondere in den Arbeiten von François Roth und Günter Riederer) vorherrschende These einer überwiegend offenen und durchlässigen Reichslandgrenze zu widerlegen und stattdessen den Focus auf border making und nation building durch die Grenze zu legen, kann allerdings nicht überzeugen. Zum einen verengt das der Argumentation zugrundeliegende Quellenmaterial der Polizeiberichte den Blick auf den Ausnahmefall der Grenzzwischenfälle, zum anderen illustrieren gerade die durch Frenking in ihre Darstellung eingebauten Bildpostkarten eindrücklich das Bild eines (zugegebenermaßen übertrieben dargestellten) harmonischen Grenzlebens: Gemeinsame Gruppenbilder von französischen und deutschen Grenzbeamten mit und ohne Touristen vor den Grenzpfählen, sogar gemeinsame Erinnerungsfotos mit im Grenzgebiet festgesetzten »Zigeunern« und ihrem Tanzbär. Der Rezensent hätte sich zudem eine intensivere Berücksichtigung der regionalen elsässischen Ebene und ihrer kulturhistorischen Erforschung durch Autoren wie Bernard Vogler und Zeitschriften wie »Les saisons d’Alsace« und die »Revue des Sciences Sociales« gewünscht. Eine Verwendung des »Annexions«-Begriff (S. 11) ist historisch nicht korrekt und entstammt der zeitgenössisch-französischen Revanchepropaganda: Es handelte sich 1871 um eine völkerrechtlich legitime Abtretung der elsässischen und lothringischen Departements an das Deutsche Reich. Wer aber einer interessant geschriebenen, gut lektorierten »dichten Beschreibung« der Situation an einer kleinen deutsch-französischen Grenzstation im Reichsland interessiert ist, und zudem Freude an Bildpostkarten als historische Quelle hat, wird mit dem Buch von Frenking sehr zufrieden sein.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Rainer Möhler, Rezension von/compte rendu de: Sarah Frenking, Zwischenfälle im Reichsland. Überschreiten, Polizieren, Nationalisieren der deutsch-französischen Grenze (1887–1914), Frankfurt a. M. (Campus Verlag) 2021, 442 S., 31 Abb. (Campus Historische Studien, 81), ISBN 978-3-593-51432-1, EUR 49,00., in: Francia-Recensio 2023/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.2.96961