Die Volkskunde ist eine Besonderheit der deutschsprachigen Länder und in dieser Form in kaum einem anderen europäischen Land zu finden. Das Buch von Jean-Louis Georget, Germanist an der Pariser Sorbonne Nouvelle, untersucht nun ihre Entstehung und Entwicklung in einem großen wissenschaftshistorischen Wurf von den ersten Anfängen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Der Blick richtet sich auf Inhalte und Methoden der Volkskunde in enger Verflechtung mit den Metamorphosen der nationalen Identität Deutschlands, der territorialen Neuordnung des deutschen Staates und dem jeweiligen epochenspezifischen Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik.

Das Buch liefert zahlreiche Belege für die These, dass es eine enge Verknüpfung zwischen historischen Ereignissen und den Etappen der Herausbildung dieser Wissenschaft gibt. Schwerpunkte sind Schlüsselperioden wie das Ende des 18. Jahrhunderts, die Revolutionen des 19. Jahrhunderts, die Schlacht von Königgrätz und der Erfolg des Kaiserreichs, die Entstehung der Weimarer Republik, die Errichtung des nationalsozialistischen Regimes und schließlich die Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Das Werk endet mit der Analyse der Katharsis-Phase ab den 1970er-Jahren und den Debatten, die zum Niedergang und »Tod« der klassischen Volkskunde Ende der 1980er-Jahre und zu ihrem Aufgehen in der Kulturanthropologie bzw. der Europäischen Ethnologie führten. Jean-Louis Georget spricht daher von der »Autopsie« einer Disziplin.

Neben der historisch-politischen Kontextualisierung beleuchtet das Werk auch die Einbettung der Volkskunde in die Nachbarwissenschaften, im Wesentlichen die Ethnologie, Germanistik, Geschichte und Soziologie, bzw. wie diese aus dem gemeinsamen Nährboden der Kulturwissenschaften hervorgingen und sich abgrenzten. Zentrale Konstrukte und Theorien stehen hier im Vordergrund, insbesondere wie sich die Konzepte von »Volk« und »Volkskultur« in ihrer jeweils zeitgebundenen Ausprägung und als Antagonismus zur Kultur der Eliten entwickelten.

Der Autor konzentriert sich auf die Epistemologie der Volkskunde und entwirrt die Gründe, warum diese »kaleidoskopische Disziplin« so schwer zu fassen ist. Die Kriterien, mit denen sich eine etablierte Disziplin eingrenzen lässt, erfüllt die Volkskunde nur annähernd. Der Autor betont, dass die Abgrenzung des Gegenstandes oftmals eher intuitiv erfolgte, die Ausbildung einer eigenen Methode »zu wünschen übriglässt« und stark von dem fachlichen Hintergrund der jeweiligen Protagonisten abhing.

Ein Geburtsfehler der Disziplin ist, dem Autor zufolge, der Umstand, dass die Volkskunde sowohl auf Ahistorizität als auch auf einem essentialistischen Verständnis von Territorium, Staat und Gesellschaft beruht: »Mehr als eine Wissenschaft, die vom Volk, seinen Sitten und Gewohnheiten spricht, mehr als eine zeitlose Phänomenologie des Begriffs [...], ist sie die Geschichte dieses Volksbegriffs selbst, die in ihren Variationen und ihrer Intensität eng von den Ereignissen der deutschen Geschichte und, im weiteren Sinne, der deutschen Geographie abhängig ist« (S. 36).

Seit dem 18. Jahrhundert werden die Grundlagen der Volkskunde im Spannungsfeld der Wahrnehmung von Volk und Territorium gelegt. Es war die Epoche als die politische Herrschaft, unter Rückgriff auf die sich entwickelnden Wissenschaften, den Raum und seine Bevölkerung mit ganz neuen Instrumenten zu erfassen und zu verwalten begann. Konzeptionell blieb das Territorium untrennbar mit dem Staat verbunden; es wurde als einer politischen Autorität unterworfen definiert, die eine Gemeinschaft von Personen erfasste, die dieser Autorität unterworfen waren. »Volk« bezeichnet dabei sowohl ein Territorium als auch eine damit verbundene Bevölkerung, was nicht zur Klarheit der theoretischen Debatten beitrug.

Eine weitere Ursache für die Unschärfe bestand darin, dass die Volkskundler zwischen einem linguistischen und philologischen Ansatz der nationalen Ursprünge (Literatur, Märchen, Sprache) und einem soziologischen Ansatz (Kultur des einfachen Volkes, hauptsächlich der bäuerlichen Milieus) schwankten. Die Germanistik und Linguistik (u. a. Grimm, Bopp) lassen sich ebenso als Ahnherren verbuchen, wie die Sozial- und Kulturwissenschaften (Achenwall, Niemann, Riehl usw.).

Die Volkskunde wurde so zu einem »Knotenpunkt der Neuzusammensetzung von Disziplinen« und zum Produkt der sukzessiven Sedimentation von Recht, dann von (lokaler) Geschichte und Philologie, dann von Sozialpsychologie. Der Autor legt dar, wie damit nach und nach die theoretische Grundlage der Volkskunde geschaffen wurde und wie sie zu einer eigenständigen Disziplin heranreifte. Entsprechend vollzog der Begriff »Volk« eine Reihe semantischer Wendungen, seit er um 1800 infolge der religiösen Krise und der Krise der Vernunft in das nationale politische Feld eintrat. Dabei zeigt sich, dass die Volkskunde, als Nationalwissenschaft und/oder als eine Suche nach regionaler Identität, nicht so empirisch ist, wie es den Anschein hatte.

Ihren Ausgangspunkt, so Georgets Hypothese, nimmt die Volkskunde in der Mitte des 18. Jahrhunderts, mit den Kameralwissenschaften und der Idee, wonach jede »Nation« (Staat, Territorium) die Fähigkeit, ihre »Glückseligkeit« zu gewährleisten, in sich selbst finden muss. Dieses theoretische Fundament eines rationalistischen Regionalismus, wurde u. a. von Justus Möser entwickelt, der als Jurist in Regierungsdiensten in Osnabrück stand und mit Herder korrespondierte. Beide sprachen sich für die Achtung der Vielfalt aus und kritisierten die »universelle Vernunft«. Die Französische Revolution löste dann auch in Deutschland eine Krise des politischen Rationalismus aus, der das Fundament des aufgeklärten Absolutismus bildete.

Das Interesse an kulturellen Besonderheiten setzte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fort und wurde von den Romantikern auf eine »nationale« Identität neu ausgerichtet. Staat und Gesellschaft wurden als Einheit aufgefasst und zunehmend setzte sich eine ahistorische Weltsicht und eine konservative nationalistische Ausrichtung durch (Riehl). Insbesondere im Laufe des 19. Jahrhunderts und durch die sich entwickelnde Germanistik mit den Brüdern Grimm in führender Rolle, wurde »das Volk« durch den Filter einer patriotischen und die nationale Vergangenheit heroisierenden Philologie definiert. Darauf bedacht, in den Romantikern nicht die alleinigen Vorfahren der Volkskunde zu erkennen, untersucht Jean-Louis Georget die allmähliche Akademisierung der Volkskunde nach der Reichsgründung 1871 und nach dem Ersten Weltkrieg. In den 1920er-Jahren kam es zu einer fortschreitenden Institutionalisierung, der Entwicklung von Museen, der (schwierigen) Ausweitung an den Universitäten und letztlich einer unversöhnlichen Spaltung zwischen jenen, die an ein primitives Gemeinschaftsgut glaubten, und jenen, die im Gegenteil der Meinung waren, dass das Kulturgut schon immer von den oberen Schichten »herabgesunken« sei.

Georget betont, dass der Weg zur Instrumentalisierung der Disziplin durch die Nationalsozialisten keine Zwangsläufigkeit aufweist. Dennoch gab es starke Tendenzen in der Disziplin, die das »Volk« als organische Gesamtheit ohne Unterschied des sozialen Hintergrunds auffasste. Eine Sicht, die später von Rosenberg und Himmler vereinnahmt wurde und die Volkskunde zum »Ort der Aufführung eines phantasierten und aggressiven Germanentums« (S. 236) werden ließ.

Der Autor bezieht auch die verschiedenen nationalen Ausprägungen dieser Wissenschaft vom deutschen Volk mit ein und weitet den Blick auf die Volkskunde in Österreich sowie am Rande auch auf die Schweiz. Dies ist besonders aufschlussreich, da die österreichische Volkskunde im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine führende und innovative Rolle spielte und nach dem Zweiten Weltkrieg noch großen Einfluss an den Universitäten in Graz, Wien und Innsbruck hatte. Zunächst müsse man, so der Autor, die Auswirkungen von Königgrätz auf die »Besiegten« sehen, die Bildung von Netzwerken, die Aktivierung einer historisierenden Option, die Umwandlung der Ethnografie in einen »biomechanischen« Determinismus (S. 141). Später, nach 1945, bewahrte Österreich die Volkskunde in ihrer ursprünglichsten Form, und zwar unter dem Siegel des Konservatismus in Graz, der Demokratisierung in Wien und der »fast nationalsozialistischen« Fortführung in Innsbruck. Der Leser findet hier die Namen von fast vergessenen Forschern wie Geramb und Koren in Graz, oder dem »Salon-Ethnologen«, Leopold Schmidt in Wien, der von der materiellen Kultur ausging, und »die Beziehungen zwischen den Menschen und den Dingen als in den Bereich des Symbolischen und Spekulativen fallend begriff« (S. 323).

In der westdeutschen Nachkriegszeit folgte zunächst die Ablehnung jeglicher Aufarbeitung bzw. die bewusste Verdrängung der unrühmlichen Rolle der Disziplin in der NS-Zeit. Gleichzeitig wurde die Volkskunde radikal in Frage gestellt, es folgten vereinzelte Rehabilitationsversuche, doch drohte sie zugunsten der Sozialwissenschaften zu verschwinden. Ihre Erlösung fand sie nach 1965 und in den 1970er-Jahren vor allem unter dem entscheidenden Impuls von Hermann Bausinger und Wolfgang Emmerich an der Universität Tübingen. Eine neue Generation versuchte, die wissenschaftliche Legitimität der Volkskunde wiederherzustellen, indem sie Kultur, Alltag und Identität jenseits jeglicher Ahistorizität neu definierte.

Ein eigener Abschnitt über die DDR zeigt, dass die Volkskunde der Nachkriegszeit zwar an Universitäten und in Museen bestehen blieb, aber zunehmend an wissenschaftlicher Kraft verlor, auf die Weigerung der Historiker stieß, mit ihr zusammenzuarbeiten, und letztlich in den Sozialwissenschaften unterging, die dem Volk eine eindeutige politische Bedeutung gaben, die ihrerseits »fast [...] essentialistisch« war (S. 317).

Der externe Blick aus einer deutsch-französischen Perspektive auf diese, für den deutschen Sprachraum so charakteristische Disziplin, ist ausgesprochen sinnvoll, lassen sich doch im Vergleich mit den Entwicklungen in Frankreich die Besonderheiten der deutschen Volkskunde besser akzentuieren. Die Ankündigung des Titels, dass es sich um eine »andere« Geschichte der deutschen Ethnologie handle, wird eingelöst. Während das Fach bisher eher von innen, von deutschsprachigen und meist engagierten »Volkskundlern« dargestellt, bzw. eher in Form von Sammelwerken behandelt wurde, die keine historische und epistemologische Analyse aus einem Guss bieten, ist der Blickwinkel hier ein externer. Der Ansatz ist synthetisch und diachron, die übliche Chronologie ist erweitert, da der Autor die Grundlagen der Disziplin nicht nur auf Herder und die Romantiker zurückführt, sondern weit früher ansetzt, nämlich bei den Kameralisten und Justus Möser.

Darüber hinaus hat der Austausch zwischen deutschen und französischen Ethnologen seit den 1970er-Jahren, insbesondere die Zusammenarbeit des Tübinger Professors Herrmann Bausinger mit Kollegen der Pariser École des hautes études en sciences sociales, die gründliche Aufarbeitung der Rolle der Volkskunde während des Nationalsozialismus beflügelt. Der Autor war sowohl Zeuge als auch Akteur dieser fruchtbaren Zusammenarbeit.

Für ein französisches Publikum wird das Thema, das in Frankreich nicht oder nur sehr wenig bekannt ist, erstmalig umfassend untersucht. Der Umfang dieser Studie, der Rückgriff auf lange Zeiträume sowie die Breite und Tiefe der verwendeten Quellen sind beeindruckend. Ein ausführlicher Index und ein exzellentes und klares Französisch unterstützen die Zugänglichkeit. Für ein frankofones deutsches Publikum stellt das Werk gleichfalls einen echten Gewinn dar.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Richard Kuba, Rezension von/compte rendu de: Jean-Louis Georget, L’ethnologie nationale allemande. Autopsie d’une discipline, Villeneuve-d’Ascq (Presses universitaires du Septentrion) 2022, 392 p. (Mondes germaniques), ISBN 978-2-7574-3643-1, EUR 32,00., in: Francia-Recensio 2023/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.2.96964