Bei dem Band handelt sich um die Veröffentlichung von über 20 Beiträgen der Tagung »Pratiques et imaginaires de paix en temps de guerre en Europe (1914–1918)«, die 2015 in La Flèche stattfand, ergänzt durch weitere bisher unveröffentlichte Studien. Das Buch erscheint nach einer Reihe von Publikationen, die dem Thema Frieden im Rahmen der Hundertjahrfeier des Ersten Weltkriegs gewidmet waren. Die Tagung in La Flèche war in gewisser Weise eine Vertiefung und Verlängerung der 2014 in Paris abgehaltenen Tagung »Les défenseurs de la paix (1899–1917)«, die das Verdienst hatte, zumindest partiell einen Perspektivenwechsel herbeizuführen.
Die Friedensforschung wurde von Historikern, die zum Krieg und zu den internationalen Beziehungen arbeiten, jahrzehntelang vernachlässigt. Die Gründe dafür sind historischer und historiografischer Natur. Einerseits war das Engagement für den Frieden in Frankreich nach der Niederlage vom Juni 1940 diskreditiert. Aus europäischer Sicht litt es andererseits darunter, dass es weitgehend mit den Erfolgen der kommunistischen Parteien nach dem Zweiten Weltkrieg identifiziert wurde. Jean-Michel Guieu und Stéphane Tison weisen auch auf eine historiografische Ursache für dieses Desinteresse hin: In den letzten zwanzig Jahren wurde die Forschung über den Ersten Weltkrieg unter dem Blickwinkel der historischen Anthropologie und der Kriegskultur betrieben, was dazu führte, dass das Imaginäre, das sich um den Konflikt und die Gewalt herum konstituierte, von den Historikern stets hervorgehoben wurde, während Aspekte des Friedens lange unbeachtet blieben.
Das Buch geht von einer originellen Idee aus: die Suche nach dem Frieden im Krieg, d. h. die Analyse von Ausdrucksformen, Überlegungen, temporalen Augenblicken, die in irgendeiner Weise mit dem »Frieden« in Verbindung gebracht werden konnten. Man ist es gewohnt, historische Studien zu lesen, die sich mit dem Frieden vor 1914, mit pazifistischen Bewegungen während des Krieges oder mit Überlegungen zur Gestaltung des Friedens nach dem Krieg befassen. Der vorliegende Sammelband konzentriert all diese Überlegungen auf die Kriegsjahre, in denen man noch Reste des Vorkriegspazifismus findet, zugleich neue Proteste und Überlegungen beobachtet, wie der Frieden von morgen aussehen wird. Aber das ist noch nicht alles: Während des Konflikts gab es auch echte »Friedensmomente«, die die Akteure auf die eine oder andere Weise aus dem Kriegsgeschehen herausholten, meist nur für eine kurze Zeit.
Daraus folgt, dass der Begriff des Friedens nicht nur eine einzige Bedeutung hat, sondern äußerst vielschichtig ist. Die vier Teile, in die dieses Buch geschickt unterteilt ist, entsprechen jeweils einer spezifischen Definition oder Anwendung des Friedensbegriffs.
Der Frieden stellte oft, vor allem zu Beginn des Krieges, einen Erwartungshorizont für Kombattanten und Zivilisten dar. Krieg wurde geführt, um die Welt zu befrieden, um einen besseren Weg zu gehen, nachdem eine Reihe von Spannungen die Zeit zwischen dem Ende des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts erschüttert hatte. Es war der Frieden, der dem Konflikt einen Sinn gab. Das galt auch für die Soldaten: Die Vision einer Zukunft ohne Kriege machte das eigene Opfer erträglicher. Dies erklärt auch, warum sich die pazifistischen Bewegungen weitgehend auf den Krieg ausgerichtet hatten, wie Michael Clinton im Fall der französischen Association de la paix par le droit oder Olivier Prat im Fall des pazifistischen Katholizismus zeigen. Überlegungen zum Aufbau des Friedens und der Nachkriegswelt, wie die bekannte von Bertrand Russel (Beitrag von Michel Rappoport), finden ebenfalls ihren Platz in diesem Teil. Besonders interessant ist die Analyse der Beziehung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz zum Frieden durch Irène Hermann. Diese war problematisch, da gerade der Krieg die Daseinsberechtigung des Komitees war, entsprechend hebt Hermann dessen Misstrauen gegenüber pazifistischen Milieus hervor.
Der zweite Teil des Buches ist wahrscheinlich der originellste. Er konzentriert sich auf die »Friedensmomente« innerhalb des Krieges, d. h. auf jene Abfolge von ephemeren Erfahrungen, die eine vorübergehende Flucht aus dem Krieg ermöglichten. Diese Sichtweise eröffnet breitere Einblicke in das Konzept der Kriegskultur und ihrer Grenzen. Waffenstillstände, Momente der Brüderlichkeit, und Urlaub von der Front werden von Historikern der Kriegskultur als Wege, den Krieg zu ertragen, beschrieben. Das Buch nimmt eine Perspektive von unten ein und liest solche Momente als »expériences temporaires de la paix« für die Soldaten. Das impliziert eine Durchlässigkeit zwischen Friedenskultur und Kriegskultur, die es weiter zu erforschen gilt. Sicher ist auf jeden Fall, dass die Soldaten versuchten, sich im Schützengraben ein Stück von ihrem Leben außerhalb des Krieges zu bewahren und sich Momente der Ruhe verschafften, indem sie beispielsweise Beschäftigungen aus dem zivilen Leben nachgingen, wie Rémy Cazals betont; Sport trieben, wie Paul Dietschy illustriert; oder sangen, wie Anne Simon beschreibt.
Der Beitrag von Emmanuelle Cronier analysiert eine andere Art der Erfahrung des Friedens im Krieg, nämlich die des zeitlich begrenzten Fronturlaubs. Allein die Tatsache, unbewaffnet, physisch weit vom Kampfgeschehen entfernt zu sein, sich für einige Tage nicht der militärischen Disziplin unterwerfen zu müssen, stellte für die Soldaten eine Form der Rückkehr zum Leben vor dem Krieg dar. Nach Ansicht von Cronier sollte der Gegensatz zwischen dem Schützengraben und der friedlichen Heimat jedoch nicht überbetont werden. Der Erste Weltkrieg war ein totaler Krieg, während dem auch das Hinterland mobilisiert, Städte bombardiert wurden und auch all diejenigen, die nicht kämpfen mussten, die indirekten Folgen des Krieges zu spüren bekamen, etwa weil sie vergeblich auf Familienangehörige warteten oder Tote zu betrauern hatten. Selbst im Fronturlaub war es also unmöglich, den Konflikt zu vergessen. Die von Julie d’Andurain und Antoine Champeaux untersuchte Praxis der Überwinterung der Kolonialsoldaten, die dem Winter in den Schützengräben Nordfrankreichs wegen der Kälte nur schwer standhalten konnten und daher ab 1915 zum Überwintern nach Südfrankreich geschickt wurden, ist nach Ansicht der Autoren aufgrund ihrer schwierigen Organisation auch in diesem Sinne zu relativieren.
Der dritte Teil ist den Anti-Kriegs-Protesten gewidmet. Die Forderung nach Frieden wurde im Laufe der Kriegsjahre immer lauter. 1917 war ein Jahr von Streik und Aufruhr, auf das die Autoren jedoch nicht eingehen. Die Gesellschaft unterlag dem moralischen Diktat des Krieges, das jeden Protest zu Landesverrat machte. Doch der Krieg zog sich hin, Müdigkeit und Unzufriedenheit machten sich breit. Dennoch bleibt der Protest weitgehend die Angelegenheit einer kleinen Gruppe – wie der christlichen Pazifisten, die Gearóid Barry analysiert, der französischen Frauen (Studie von Marie-Michèle Doucet), oder der Ligue des droits de l’homme (Norman Ingram). Landry Charrier widmet ihren Beitrag dem deutschen Industriellen Wilhelm Muelhon, der kurz nach Beginn des Krieges in die neutrale Schweiz emigriert war, während Rémi Fabre die Zeitschrift »Demain« betrachtet, mit der der Herausgeber Henri Guilbeaux dem Pazifismus eine Stimme gab.
In Fortsetzung dieser Tendenzen ist es nicht verwunderlich, dass in den letzten Kriegsjahren Vorschläge für den Abschluss eines allgemeinen Friedens oder separater Friedensverträge gemacht wurden. Dieses Thema wird im vierten und letzten Kapitel des Buches behandelt. Die Bedeutung dieser oft heimlichen Versuche eines Verhandlungsfriedens, die wie im Fall von Paul Painlevé (Artikel von Anne-Laure Anizan) im Gegensatz zur Rhetorik des jusqu’au-boutisme standen, ist oft unterschätzt worden. Umso wichtiger ist es, ihnen einen Raum zu geben.
Das große Verdienst dieses Sammelbandes besteht darin, dass er die Bedeutung des imaginären Friedens während des Krieges wieder ins Bewusstsein ruft. Nach Beendigung des Konflikts war die emotionale Bindung an den Frieden bei denjenigen, die einen Teil ihrer Jugend an der Front verbracht hatten, unbestreitbar. Die unmittelbare Nachkriegszeit war auch die Wiege zahlreicher Organisationen, die sich der Friedenssicherung verschrieben hatten, wie besonders des Völkerbunds. Es wäre interessant, die Überlegungen fortzusetzen und danach zu fragen, ob aus der Perspektive von unten die Tatsache, dass viele während des Krieges von den vorübergehenden Momenten des Friedens und der Normalität profitiert hatten, eine Rolle für ihr Verhältnis zum Nachkriegsfrieden spielte.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Elisa Marcobelli, Rezension von/compte rendu de: Jean-Michel Guieu, Stéphane Tison (dir.), La paix dans la guerre. Espoirs et expériences de paix (1914‑1919), Paris (Éditions de la Sorbonne) 2022, 429 p. (Guerre et paix, 8), ISBN 979-10-351-0669-0, EUR 34,00., in: Francia-Recensio 2023/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.2.96969