Über Walter Benjamins Recherchen zu den Pariser Passagen als Architektur, sozialem Ort und kulturgeschichtlichem Gegenstand vom Anfang des 19. Jahrhunderts ist bereits eine ganze Bibliothek an Forschungsliteratur geschrieben worden. Seine Aufzeichnungen und Exzerpte, die er zu diesem Themenkomplex ab Mitte der 1920er-Jahre bis zu seinem Tod im Jahr 1940 gesammelt hat, wurden von ihm in verschiedenen Briefen »Passagenarbeit« genannt und posthum von Rolf Tiedemann als Doppelband in den »Gesammelten Schriften« unter dem Titel »Passagen-Werk« herausgegeben. Trotz ihres fragmentarischen Charakters zählt diese Sammlung von Zitaten zu den viel zitierten, klassischen Texten in den Geistes- und Kulturwissenschaften, wenn sie sich mit der Entstehung der modernen Kultur und Gesellschaft ab dem 19. Jahrhundert beschäftigen. Die Konvolute aus Zitaten stammen aus der produktiven Spätphase der Arbeiten Benjamins. Neben dem »Passagen-Werk« entstanden einige seiner bekanntesten Aufsätze, wie der »Sürrealismus«-Aufsatz von 1929, der Text über »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« von 1936, die Thesen »Über den Begriff der Geschichte« von 1940. Die komplexe Entstehungs- und Editionsgeschichte von Benjamins Passagenprojekt ist bislang vor allem eine Textgeschichte. Tatsächlich aber hat sich Benjamin während seiner Recherchen ganz offensichtlich in besonderer Weise auch für historisches Bildmaterial interessiert, wie er es etwa im Cabinet des estampes der Bibliothèque nationale in Paris vorfand.
Dieser Aspekt scheint bislang immer noch wenig bekannt zu sein. Die Passagenarbeit, die als Buch nie vollendet wurde und lediglich eine Menge an deutschen und französischen Quellen versammelt, war von Benjamin ebenso als eine Sammlung von historischen Bildern, Drucken, Illustrationen, Karikaturen und Plakaten geplant, wenn man der These von Steffen Haug folgt. Zahlreiche Bilder sollten den Text begleiten und mit ihm korrespondieren, um ein damals neuartiges, kulturelles Dokument über die Kultur des 19. Jahrhunderts zu schaffen. Auch wenn Benjamins Sammlerfieber und sein Interesse etwa an Karikaturen von Honoré Daumier recht bekannt sind, wurde dieser Aspekt des »Passagen‑Werks« bislang weder in der Literaturwissenschaft, in der über Benjamins Arbeiten am meisten geforscht wird, noch in der Bildwissenschaft oder der Kunstgeschichte umfassend untersucht und dargestellt. Gründe dafür mögen in der Sache selbst liegen: viele Verweise auf Abbildungen sind im Text versteckt und müssen erst rekonstruiert werden, außerdem hat sich Benjamin nicht nur für kunstgeschichtliche Meisterwerke interessiert, sondern vielmehr auch für Drucke und Plakate aus der Alltagskultur, die das Bewusstsein der Menschen und das Leben auf der Straße prägten.
Steffen Haug hat diesen Zusammenhang 2017 erstmals in einer detaillierten Untersuchung dargestellt, indem er alle Bilddokumente in Zusammenhang mit der Passagenarbeit, auf die Benjamin bei seinen Recherchen stieß oder die er indirekt erwähnte, weil er sie unmittelbar vor Augen oder im Gedächtnis hatte, rekonstruiert und versammelt hat. Diese maßgebliche Arbeit ist im letzten Jahr unter dem Titel »Une collecte d’images. Walter Benjamin à la Bibliothèque nationale« in leicht überarbeiteter Form beim Centre allemand d’histoire de l’art (DFK Paris) in den Éditions de la Maison des science de l’homme als voluminöser Band in französischer Übersetzung erschienen. Diese umfangreiche Neuausgabe ist im Unterschied zur deutschen Erstfassung in vielen Bibliotheken online zugänglich. Anders als in der deutschen Ausgabe ist dem Band kein umfangreicher Apparat an Bildern im Anhang beigegeben, sondern eine chronologisch angeordnete Auflistung aller Textstellen aus dem gesamten »Passagen-Werk«, in denen Benjamin Bilder in einschlägiger Weise beschreibt oder erwähnt. Diese Textstellen folgen dabei der Anordnung der Konvolute im »Passagen-Werk« in Benjamins »Gesammelten Schriften«, die von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem begonnen sowie schließlich von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser im Suhrkamp Verlag herausgegeben wurden. Auf diese Weise ergänzt die neue französische Ausgabe von Haugs Arbeit die existierende deutsche Fassung um einige Aspekte und wird ebenso eine wichtige Forschungsreferenz sein. Der Band bildet durch zahlreiche Querverweise einen regelrechten Hypertext von Texten und aufgefundenen Bildquellen, in dem hin- und hergeblättert werden kann und durch den über den vorliegenden Band hinaus auf zahlreiche Quellen in Archiven, Bibliotheken und historischen Publikationen verwiesen wird. Jedes Bildobjekt in diesem Band wird in der Legende sowohl in Benjamins »Passagen‑Werk« als auch an seinem archivalischen Ort oder in seiner teils historischen Publikationsform verortet.
Die Einteilung des übersetzten Buches ist im Übrigen genauso gestaltet wie die deutsche Ausgabe: die großen Kapitel folgen den Arbeitsphasen, in denen Benjamin zum Passagenprojekt recherchiert hat. Das erste Kapitel stellt die erste Arbeitsphase von 1927–1934 dar, in der gemeinsam mit Franz Hessel erste Entwürfe zur Passagenarbeit sowie einige Seiten über »Saturnring oder Etwas vom Eisenbau« formuliert wurden. Das zweite Kapitel geht auf die zweite Arbeitsphase von 1934–1940 ein, in der Benjamin im Pariser Exil vor allem im Cabinet des estampes in der Bibliothèque nationale über die Passagen forschte. Das dritte und umfangreichste Kapitel versucht schließlich, ausgehend von dem wichtigen Exposé »Paris, Hauptstadt des 19. Jahrhunderts« von 1935, die Beziehungen zu den Bildquellen und Zitaten aus dem gesamten Korpus des fragmentarischen »Passagen-Werks« herzustellen, um so von der Kurzfassung des Exposés aus die Idee des von Benjamin geplanten Buches wenigstens annähernd zu rekonstruieren. Eine eigene Theorie des Bildes formuliert die Arbeit von Haug nicht, am Ende des Bandes im Epilog aber wird Benjamins Kunstwerk-Aufsatz als eine erste Frucht aus den Recherchen zum Passagenprojekt dargestellt. Haugs Buch ist in seiner deutschen wie in seiner französischen Fassung eine extrem beeindruckende Forschungsarbeit und Rechercheleistung, die durch ihren dokumentarischen und historisch-rekonstruktiven Gehalt für das Verständnis von Benjamins Arbeiten sowohl als inspirierende visuelle Fundgrube als auch als Nachschlagewerk unumgänglich bleiben wird.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Frank Müller, Rezension von/compte rendu de: Steffen Haug, Une collecte d’images. Walter Benjamin à la Bibliothèque nationale. Traduit de l’allemand par Jean Torrent, Paris (Éditions de la Maison des sciences de l’homme) 2022, 538 p. (Passagen, 63), ISBN 978-2-7351-2854-9, EUR 30,00., in: Francia-Recensio 2023/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.2.96972