Unter dem Eindruck der Bankenkrise im Jahre 1931 machte sich im Juli desselben Jahres Delegationen aus Frankreich, Deutschland und Belgien auf den Weg zur Sieben-Mächte-Konferenz nach London, wo sie auf Teilnehmer aus den USA, Italien, Luxemburg und Großbritannien trafen. Wichtiger Tagesordnungspunkt war die Aussetzung internationaler Zahlungsverpflichtungen angesichts der weltweiten Wirtschaftskrise. Der Fotograf Erich Salomon hielt die Reise der Delegierten in Bildern fest. Er fotografierte eine Vorbesprechung in Paris auf der Veranda des Palais de la présidence du Conseil. Er fotografierte aber auch auf der Fahrt selbst1. Zwei Ablichtungen gibt es aus dem Sonderzug, den die französische Regierung der Delegation zur Verfügung stellte. Die eine zeigt die deutschen, französischen und belgischen Politiker an einem gedeckten Esstisch. Die andere fängt eine vermeintlich ungezwungene Situation im Salonwagen ein und dient dem hier zu besprechenden Sammelband als Titelbild. Im Vordergrund, nur von der Seite zu erkennen, studiert der Generalsekretär des französischen Außenministeriums Philippe Berthelot Papiere. Ihm gegenüber sitzt zeitungslesend der französische Ministerpräsident Pierre Laval. Hinter ihm sind im intensiven Gespräch aus dem Sessel leicht vorgebeugt der französische Außenminister Aristide Briand und der deutsche Reichskanzler Heinrich Brüning zu sehen, sowie auf einem Sofa der belgische Außenminister Paul Hymans und der deutsche Außenminister Julius Curtius. Es ist ein Bild von sechs Männern und zugleich von sechs Politikern, die während der Konferenz nicht zu einer Einigung kommen sollten. Vielmehr sei der »deutsch-französische Gegensatz« in London, so der Reichskanzler in seinem abschließenden Bericht vor dem Kabinett wenige Tage nach seiner Rückkehr, deutlich hervorgekommen2.
Politische Entscheidungsfindungen wie sie auf der Londoner Sieben-Mächte-Konferenz passierten, stehen nicht im Fokus des zu besprechenden Sammelbandes von Philipp Müller und Hervé Joly, der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland und Frankreich zusammenbringt und aus einem Kolloquium in Paris im September 2017 hervorgeht. Stattdessen interessiert sich der Sammelband für Netzwerke, Beziehungen und Interaktionsräume der Akteure, die dabei keineswegs als direkte Produkte politischer Entscheidungen und Ereignisse verstanden werden. Die Beziehungen würden sich vielmehr, so die Annahme des Sammelbandes, auf andere Weise und in anderen Räumen konstituieren. Anders als das Titelbild jedoch vermuten lässt, geht es dabei nicht um Politiker per se, sondern um eine deutsch-französische Wirtschaftselite. Deren Angehörige werden in doppelter Hinsicht als Grenzgänger charakterisiert, und zwar sowohl als Grenzgänger zwischen Staaten als auch als Grenzgänger zwischen Wirtschaft und Staat. Das Geflecht deutscher und französischer, staatlicher, halböffentlicher und unternehmerischer Personen und Organisationen, das damit in den Blick gerät, zeigt deutlich, dass die Beziehungen zwischen deutschen und französischen Wirtschaftseliten von einer Vielfalt verschiedener Kooperations- und Konfliktmöglichkeiten sowie der Vermischung wirtschaftlicher und staatlicher Ziele geprägt waren.
Das gilt für so unterschiedliche Organisationen und Institutionen wie das Comité d’études franco-allemand und die Entente internationale de l’Acier (Beitrag von Gérald Arboit), die Internationale Handelskammer (ICC, Beitrag von Philipp Müller), die Handelskammern im Grenzgebiet Frankreichs und Westdeutschlands nach 1945 (Beitrag von Martial Libera) oder aber auch das Komitee Frankreich-Deutschland (Hervé Joly). Es gilt aber auch für das »gemischte Schiedsgericht«, das Raum für rechtliche Interaktion durch Experten war, deren Tätigkeitsbereich nach dem Versailler Vertrag entstanden war (Beitrag von Jakob Zollmann).
Der Sammelband zeigt aber nicht nur, wie vielseitig die Interaktionsräume waren. Er verweist ebenfalls auf Interdependenzen zwischen diesen Räumen. Marion Aballéa beispielsweise zeigt, wie die französische Botschaft zu einem Ort der Vermittlung unternehmerischer Interessen wurde, der sich insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr im Sinne der klassischen Trennung von Staat und Wirtschaft beschreiben lässt. Solche Interdependenzen sind insbesondere zu beobachten, als in der Zwischenkriegszeit, privatwirtschaftliche Akteure und Institutionen staatliche Funktionen übernahmen (siehe hierzu die Beiträge von Gérald Arboit, Philipp Müller und Sylvain Schirmann).
Wenn man bedenkt, dass die historische Forschung die deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen lange Zeit als zwei konkurrierende oder kooperierende nationale Räume betrachtet und diese weitestgehend anhand der politischen Zäsuren erzählt hat, bietet der Sammelband mit seinem Blick auf die vielfältigen Verflechtungen zwischen Räumen und Akteuren einen produktiven Perspektivenwechsel. Philipp Müller betont denn auch gleich zu Beginn seiner Einleitung, dass die untersuchte Zeitspanne von 1920 bis 1950 zwar mit dem Versailler Vertrag, dem Beginn der nationalsozialistischen Diktatur, der deutschen Besatzung Frankreichs während des Zweitens Weltkriegs und der französischen Besatzung in Westdeutschland nach 1945 einen wichtigen historischen Kontext darstelle, diese politischen Zäsuren aber nicht die Beziehungen und Interaktionsräume bestimmten.
Die insgesamt elf Beiträge des Bandes, die neben der Einleitung in einem von Oliver Dard verfassten Fazit gerahmt werden, leuchten aus, wie die Netzwerke deutsch-französischer Wirtschaftseliten über die wechselnden Regime hinweg Bestand hatten. Beispielsweise in dem Beitrag von Anna Karla, die sich im Kontext der Reparationszahlungen mit Aufträgen an deutsche Unternehmen für öffentliche französische Bauprojekte beschäftigt. Sie legt dar, wie sich hier auf der einen Seite unternehmerische und politische Interessen miteinander verknüpften, auf der anderen Seiten die Unternehmen aber auch autonom agierten und die geknüpften Kontakte nicht mit dem Ende der Reparationszahlungen stoppten. Ähnliche Kontinuitäten über politische Zäsuren hinweg kann Sébastien Durand für den deutsch-französischen Weinhandel zeigen oder Cédric Perrin für die handwerkliche Berufsorganisation.
Sylvain Schirmann macht mit seiner Untersuchung der Association française pour les relations économiques en Allemagne (AFREA) deutlich, dass obwohl diese erst nach 1949 gegründet wurde, sie in vielerlei Hinsicht in der Kontinuität der organisierten Verbindungen zwischen deutschen und französischen Industriellen vor dem Zweiten Weltkrieg stand. Er sensibilisiert damit noch einmal dafür, den Blick von den Institutionen selbst auf die Akteure zu lenken, die diese gestalteten. In dem Beitrag von Gilles Morin zu dem exklusiven Cercle européen zur Zeit der Kollaboration wird zudem deutlich, wie vielseitig diese Akteure sein konnten, die die Wirtschaftsbeziehungen prägten. Hier stellten beispielsweise abseits von Unternehmern, Selbstständigen und Führungskräften auch Journalisten eine Gruppe der insgesamt zweitausend Mitglieder, die sich im Rahmen der Organisation geschäftliche und persönliche Vorteile erhofften.
Diese mehrdimensionale und transnationale Perspektive auf Wirtschaftseliten ist ein Ansatz, der sich nicht nur für das deutsch-französische Beispiel eignet, sondern – und das räumt Müller ebenfalls in seiner Einleitung ein – durchaus auf andere Fälle übertragbar und entsprechend erweiterbar ist, ja der Sammelband regt gleichsam dazu an, weitere Dimensionen einzubeziehen. Schließlich waren die deutsch-französischen Netzwerke mit weiteren Netzwerken verflochten. Das macht nicht zuletzt Salomons Bild deutlich, auf dem neben französischen und deutschen auch belgische Politiker zu sehen sind. Kulturgeschichtlich drängt sich zudem die Frage nach den Repräsentationen und der Sicht- und Unsichtbarmachung solcher Interaktionsräume auf sowie die nach den Produzenten dieser Repräsentationen, wie Salomon es als ein »Meister[n] der Selbstinszenierung«3 war. Was sei schon eine internationale Konferenz, wenn Salomon nicht dabei sei, soll der französische Außenminister Aristide Briand über Erich Salomon gesagt und »Ah, le voilà! Le roi des indiscrets!« ausgerufen haben, als er ihn entdeckte4.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Eva Gajek, Rezension von/compte rendu de: Hervé Joly, Philipp Müller (dir.), Les espaces d’interaction des élites françaises et allemandes. 1920–1950, Rennes (Presses universitaires de Rennes) 2021, 210 p. (Histoire), ISBN 978-2-7535-8217-0, EUR 24,00., in: Francia-Recensio 2023/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.2.96988