Michel Kerautret, Mitherausgeber der »Correspondance générale de Napoléon Bonaparte«, zieht in diesem Band eine Summe seiner langjährigen Beschäftigung mit Preußen. Er weist darauf hin, dass im Revolutionszeitalter zunächst die Ausgangslage für ein Einvernehmen zwischen Frankreich und Preußen günstig war, da sich eine ganze Generation französischer Intellektueller in der Bewunderung für Friedrich den Großen und seine aufgeklärte Regierungsführung geübt hatte. In der Ambiguität Preußens, zugleich Staat der Aufklärung und Staat einer ausgeprägten Adelsherrschaft zu sein, sieht Kerautret auch die Anlagen für einander entgegengesetzte Möglichkeiten der Mächtekombination: ein Bündnis Frankreichs mit Preußen gegen Österreich und den Rest, oder ein Krieg Frankreichs gegen ein Österreich, das sich mit Preußen gegen die Revolution verbündet hat (S. 20). Diese Ambiguität machte es möglich, dass nach dem Frieden von Basel 1795 das Pariser Directoire weiterhin der Vorstellung anhing, Preußen sei ein natürlicher Alliierter, während gleichzeitig die royalistische Emigration sich bemühte, Preußen in die Zweite Koalition gegen Frankreich zu manövrieren (S. 34). »Gemäßigte« phantasierten davon, in Frankreich die Monarchie unter dem Prinzen Heinrich oder dem Herzog von Braunschweig zu restaurieren (S. 35). Auf alle Fälle war Preußen in der Lage, bei der Anbahnung von Friedensfühlern zwischen Frankreich und Russland im Jahr 1800 Hilfe zu leisten, wie Kerautret aus ungedrucktem Material schildert (S. 51).

Der Staatsstreich vom 18. Brumaire hatte in den europäischen Regierungen die Erwartung geweckt, es mit einem stabilen Regime in Frankreich zu tun zu bekommen, und man war auch in Berlin durchaus wohlwollend eingestellt. Preußen hatte sodann Grund, dem Ersten Konsul dafür dankbar zu sein, dass er zusammen mit dem russischen Kaiser eine Entschädigung Preußens für die verlorenen Gebiete auf dem linken Rheinufer aushandelte, die das Fünffache des Verlustes ausmachte (S. 66). Die preußische Verärgerung über die Entführung des britischen Agenten Rumbold aus Hamburg 1804 suchte Napoleon auszugleichen, indem er 1805 ein Großkreuz der Ehrenlegion schuf, zu dessen ersten Empfängern Friedrich Wilhelm III. gehörte (S. 70). Napoleon, so berichtete Botschafter Lucchesini aus Paris, habe sich seinerseits sehr über den Schwarzen Adlerorden gefreut, den der von ihm bewunderte Friedrich der Große getragen hatte.

Gleich Brendan Simms und Philip Dwyer hebt auch Kerautret die geopolitische Mittellage Preußens zwischen den beiden Riesen Frankreich und Russland hervor, die zunächst den Immobilismus der Preußen nach sich zog (S. 56), um dann 1805 von hektischen Manövern Berlins abgelöst zu werden, die Preußen um jede Glaubwürdigkeit brachten. Napoleon, so meint Kerautret, habe sich von Friedrich Wilhelm III. verraten gefühlt, einem Herrscher, den er immer besonders aufmerksam behandelt hatte (S. 76). Von jetzt an lief die Entwicklung auf Jena und Auerstedt zu. Den Frieden von Tilsit und die finanzielle Ausplünderung, die Preußen danach erfuhr, nennt Kerautret die »Bestrafung« durch einen »erbarmungslosen Sieger« (S. 83). Wieso er behauptet, der Friedensvertrag habe Preußen auf seine »Grenzen von 1786« reduziert (S. 81), versteht man nicht, da die Abtretung sämtlicher Provinzen links der Elbe Preußen dort auf einen Stand weit vor 1786 zurückgeworfen hat.

Der richtige Staatsmann für die Beschaffung des von Napoleon verlangten Geldes schien Hardenberg zu sein, in dessen Rückberufung der Kaiser daher 1810 einwilligte. Seinen durch Napoleon erzwungenen Ruhestand hatte Hardenberg bis dahin allerdings nicht, wie Kerautret schreibt, im Hannoverschen, sondern in Riga und danach auf seinem Brandenburger Gut Tempelberg verbracht (S. 104). Es ist von dann an Hardenberg, der in Kerautrets Schilderung Frankreich gegenüber als das Gesicht Preußens auftritt. Die Feldzüge von 1812–1814 werden von Kerautret auf 9 Seiten recht summarisch behandelt, wobei er hervorhebt, welche Ereignisse dieser Jahre besonders im deutschen Gedächtnis verankert worden sind. Ausführlich hingegen widmet sich Kerautret auf 20 Seiten der Frage, wie die Anteile Preußens, der übrigen deutschen Truppen und der Briten am Sieg von Waterloo verteilt waren: Keiner hätte ohne den anderen Erfolg gehabt. Das angeblich am Abend der Schlacht von den Preußen angestimmte Lied »Nun danket alle Gott« stammt, anders als Kerautret es schreibt, nicht von Luther (S. 122). Im Namenswettbewerb unterlag die preußische Variante »Belle-Alliance«, erst recht, seit auch der Platz in Berlin diesen Namen nicht mehr trägt (S. 124). Die Härte der Preußen gegen die regionale Zivilbevölkerung nach Waterloo (S. 125), wieder erinnert im Kriegsjahr 1914, und auch preußische Übergriffe im besetzten Paris sind kein prominenter Teil der deutschen Überlieferung (S. 126).

Es folgt ein Essay, der die postume Konkurrenz um den Ruhm zwischen Friedrich dem Großen und Napoleon nachzeichnet. Vergleiche der beiden Herrscher waren in Frankreich gängig und wurden von Napoleon nicht abgelehnt. Selbst die Niederlage der friderizianischen Armee im Jahr 1806 schmälerte Friedrichs Ruhm in Frankreich nur geringfügig (S. 142). In der Restaurationszeit freilich war Friedrich als Vorbild einer erfolgreichen Regentschaft weniger gefragt, da man ihm seine Irreligiosität anlastete (S. 146). Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde Friedrich zusammen mit Alexander, Cäsar oder Peter dem Großen in die Kategorie der großen Heroen entrückt, sodass man ihm sogar die Teilung Polens vergaß (S. 151).

Als Epilog schließt Kerautret eine Betrachtung zu Victor Hugo und dessen Verhältnis zu Preußen an. Dieser Staat verkörperte für Hugo das Zukunftweisende an Deutschland; wenn es darum ging, eines Tages links und rechts der Achse des Rheins zwei große verschwisterte Nationen zusammenzubringen (wobei es Hugo selbstverständlich schien, dass das linke Rheinufer einst wieder französisch sein würde), würde Deutschland nicht von Österreich geführt werden, das Hugo verabscheute, sondern von Preußen (S. 164). Dass Kerautret die Ablehnung der durch die Paulskirchen-Versammlung offerierten Kaiserkrone seitens Friedrich Wilhelms IV. auf das Ultimatum von Olmütz zurückführt (S. 168, Fn. 5), ist freilich eine allzu gewaltsame Verkürzung.

Mit seinen Quellennachweisen belegt Kerautret besonders den Innenlauf der französischen Diplomatie. Hierzu hat es in den letzten Jahrzehnten mehrfach neu publiziertes Material gegeben, und hin und wieder zitiert Kerautret auch aus ungedruckten Quellen des Außenministeriums. Demgegenüber war zur selben Zeit der Forschungsertrag auf deutscher Seite geringer. Anders, als es der Titel nahelegt, findet eine biografische Zuspitzung auf den Franzosenkaiser in diesem Buch nicht statt, die Verengung von Frankreich auf Napoleon gibt es nur in dem Kapitel, das die beiden berühmtesten Monarchen vergleicht.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Thomas Stamm-Kuhlmann, Rezension von/compte rendu de: Michel Kerautret, Napoléon et la Prusse, Paris (Les Éditions du Cerf) 2022, 178 p. (Cerf patrimoines), ISBN 978-2-204-15134-4, EUR 21,00., in: Francia-Recensio 2023/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.2.96989