Das Elsass hat sich jahrzehntelang schwer getan mit seiner jüngsten Vergangenheit im Zeitalter des Nationalismus, der einen vierfachen Wechsel der nationalen Zugehörigkeit mit sich brachte (1870/71, 1918/19, 1940, 1944/45). Politische Brüche, die jeweils mit massenhaften Auswanderungen, Ausweisungen oder Deportationen einhergingen und im Herbst 1942 dazu führten, dass Elsässer und Lothringer völkerrechtswidrig in die Wehrmacht und SS zwangsrekrutiert wurden. Nach Kriegsende trafen diese »Malgré-nous«, soweit sie ihren Militäreinsatz an der Ostfront und die sowjetische Kriegsgefangenschaft überlebt hatten, in der Heimat auf zurückgekehrte Elsässer und Elsässerinnen, die die Kriegsjahre in der Evakuierung im Südwesten Frankreichs überstanden oder in der französischen Résistance gekämpft hatten, sowie auf diejenigen, die während der deutschen Besatzungszeit im Elsass geblieben waren, passiv die nationalsozialistische Politik ertragen oder sich aber aktiv als Kollaborateure dem NS-Regime angedient hatten. Diese besondere Nachkriegssituation führte dazu, dass nach einer kurzen Übergangsphase der »Épuration«, der politisch-kulturellen Säuberung der elsässischen Gesellschaft, versucht wurde, die sehr konträren Lebenserfahrungen selbst innerhalb einer Familie mit dem Mantel des Schweigens zu bedecken – das Theaterstück von 1949: »Enfin …, Redde m’r nimm devun«, von Germain Muller ist hierfür sprichwörtlich geworden.

Auch die elsässische Zeitgeschichtsforschung begann sich erst Anfang der 1980er-Jahre vorsichtig der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Besatzungszeit zu nähern; Universitätsgelehrte wie der Straßburger Landeshistoriker Bernard Vogler waren dabei aber die Ausnahme. Engagierte Lehrer wie Robert Steegmann (»Le Struthof«, 2005), Juristen wie Jean-Laurent Vonau (»Gauleiter Wagner«, 2011) und zahlreiche Beiträge in der Zeitschrift der »Les saisons d’Alsace« bearbeiteten die umstrittenen Themen; bis heute ist allerdings die Dissertation von Lothar Kettenacker »Nationalsozialistische Volkstumspolitik im Elsass« aus dem Jahre 19731 das maßgebende Standardwerk zu diesem Zeitabschnitt geblieben.

Umso lobenswerter ist es, dass jetzt mit dem Ausstellungskatalog »Face au nazisme: le cas alsacien«, ein Buch vorliegt, das reichhaltig illustriert mit zeitgenössischen Dokumenten, Fotos und Plakaten in wichtige Themen dieser elsässischen Zeitgeschichte einführt. Ausstellung und Katalog sind ein Gemeinschaftswerk der Straßburger Universitätshistorikerin Catherine Maurer und des Bibliothekskonservators Jérôme Schweitzer von der BNUS (Bibliothèque nationale et universitaire de Strasbourg), die für einzelne Themen weitere Autoren und Autorinnen gewinnen konnten: Theresa Ehret zur NS-Kirchenpolitik, Théophile Leroy und Frédéric Stroh zur nationalsozialistischen Repression gegenüber »Gemeinschaftsfremden« im Elsass (Juden, »Tsiganes« und Homosexuelle), Jean-Marc Dreyfus zur »Beschlagnahme feindlichen Vermögens« durch den NS-Staat und dessen Restituierung nach Kriegsende.

In drei großen Blöcken: zunächst zur Zwischenkriegszeit (»une frontière contestée«), dann zu den Jahren der nationalsozialistischen »Annexion de fait« und abschließend zu deren Erinnerungsgeschichte bis heute (»de la mémoire à l’histoire«) bekommt der Leser durch kürzere Überblicksartikel und längere thematische Aufsätze die notwendigen Informationen, um die zahlreichen, durchweg interessanten und zum Teil bislang noch nicht veröffentlichten Illustrationen historisch einordnen zu können. Themen, die von der »offiziellen« französischen Geschichtsschreibung jahrzehntelang vernachlässigt worden waren, wie die elsässisch-autonomistische Heimatbewegung der 1920- und 1930er-Jahre mit ihrem vom NS-Staat posthum zum Märtyrer erhobenen Politiker Karl Roos, oder die Geschichte der beiden Straßburger Universitäten, der nationalsozialistischen Reichsuniversität und der nach Clermont-Ferrand evakuierten Université de Strasbourg, werden ausführlich behandelt. Auch die bis heute im Elsass nur ungern gestellte Frage nach Mitläufertum und Kollaboration wird gestellt.

An manchen Stellen hätte der Rezensent sich gewünscht, dass die Autoren und Autorinnen prononciertere Urteile gefällt hätten, zum Beispiel zu dem vom französischen Staat politisch-instrumentalisierten Prozess gegen die elsässischen Autonomisten in Colmar 1928 oder zum juristisch äußerst fragwürdigen Todesurteil des französischen Kriegsgerichts gegen Karl Roos. Auch der elsässische Widerstand kommt in der Darstellung zu kurz – das ist schade, denn es gab ihn hier in vielfältiger Weise, von Pfadfindern, Studierenden bis zu Eisenbahnern, von Männern und Frauen; und er wurde vom badischen Gauleiter Robert Wagner mit äußerster Härte bekämpft. Die Widerständler gerieten nach der Befreiung bald in Vergessenheit, zeigten sie doch der elsässischen Nachkriegsgesellschaft, dass es auch unter der direkten nationalsozialistischen Besatzung durchaus Handlungsspielräume jenseits des Mitläufertums und der Kollaboration gegeben hatte.

Auffallend ist, dass bei der Ausstellung und dem Katalog anscheinend auf eine Mitarbeit der deutschen Zeitgeschichtsforschung verzichtet wurde; auch die einschlägigen deutschen Archive wie das badische Generallandesarchiv in Karlsruhe oder das Bundesarchiv wurden nicht konsultiert. Dies soll nicht den Verdienst der elsässischen Zeitgeschichtsforschung schmälern, die in den letzten beiden Jahrzehnten aktiv die Historisierungsarbeit dieser immer noch mit vielen gesellschaftlich-kulturellen Tabus behafteten Regionalgeschichte angegangen ist. Es verstärkt aber den allgemeinen Eindruck, dass die elsässischen Forscher und Forscherinnen unter sich bleiben wollen, und an einem transnationalen Austausch kaum Interesse haben. Wichtige Forschungsergebnisse werden dadurch nicht oder erst sehr verspätet rezipiert (so ist auch dieser Katalog aktuell nur in einer größeren deutschen Bibliothek vorhanden). Und diese Tendenz reiht sich leider in den größeren Rahmen der derzeitigen deutsch-französischen Beziehungen auf politischer und gesellschaftlicher Ebene ein: von den temporären Grenzschließungen zu Beginn der Corona-Pandemie bis zum beiderseitig abnehmenden Interesse am Nachbarland und seiner Sprache.

1 Vgl. die Besprechung der frz. Ausgabe (1978) in »Francia«, 9 (1981), S. 853–855, DOI: 10.11588/fr.1981.0.51066.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Rainer Möhler, Rezension von/compte rendu de: Catherine Maurer, Jérôme Schweitzer, Pauline Belvèze, Théo Mertz, Alain Colas (dir.), Face au nazisme. Le cas alsacien, Strasbourg (BNU Éditions) 2022, 191 p., ill. en n/b et en coul., ISBN 978-2-85923-094-4, EUR 24,00., in: Francia-Recensio 2023/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.2.96994