Wahrscheinlich die meisten Historiker und Historikerinnen träumen davon: Im Familienerbe findet sich irgendwo ein ganzer Schrank voll mit reichhaltigem Quellenmaterial zur Familiengeschichte: Briefe, Tagebücher, Zeugnisse. Ein solcher Fund steht am Anfang des hier vorzustellenden Buches: ein Konvolut aus 157 Briefen, die Léon Lescœur, zu diesem Zeitpunkt ein hoher Beamter im Bildungsministerium, während der »année terrible« 1870/1871 von Paris aus an seine Frau geschrieben hat, die sich fernab des Kriegsgeschehens auf dem Familiensitz in Pierreclos (Saône-et-Loire) aufhielt. Auf der Grundlage dieser Briefe sowie zahlreicher weiterer Dokumente, die er in den Schränken des Hauses in Pierreclos fand, hat der junge Historiker Thibault Montbazet, ein ferner Nachkomme dieses Léon Lescœur, eine »Histoire biographique du siège de Paris« geschrieben. Um es vorwegzunehmen: ein sehr lesenswertes Buch.

Der 1821 geborene Léon Lescœur entstammt einer bürgerlichen Notabeln-Familie, die es bereits zum Zeitpunkt seiner Geburt zu einem gewissen Wohlstand gebracht hatte. Zeit seines Lebens ist er stolz auf diesen bürgerlichen und provinziellen Hintergrund; die Familie ist außerdem durch ihre Beziehung zum jansenistischen Katholizismus geprägt. Léon studierte an der École normale in Paris, wurde aber nicht zur Agrégation zugelassen; er arbeitet zunächst als Lehrer, bevor er 1854 als Schulinspektor der Académie von Niort in die Schulverwaltung eintritt. 1868 gelangt er schließlich, inzwischen verheiratet und Familienvater, in die zentrale Verwaltung des Bildungsministeriums nach Paris, wo er bis zu seiner Pensionierung 1882 arbeiten sollte. Das erste Kapitel des Buches (»Portrait en kaléidoscope«) ist der Rekonstruktion dieses familiären Hintergrundes und der beruflichen Karriere gewidmet; bereits hier zeigen sich die besonderen Qualitäten, die Montbazets Arbeit auszeichnen, nämlich eine virtuose Verflechtung von Mikro- und Makroperspektive, das stete Hin und Her zwischen der biografischen und der sozialgeschichtlichen Perspektive. Ausbildung, Partnerwahl, Berufsleben oder Weltanschauung Léons sind hier nie biografischer Selbstzweck, sondern stets Anlass zu Reflexionen über das bürgerlich-provinzielle Milieu, dem er entstammt.

Die folgenden drei Kapitel sind dem Krieg und der Belagerung von Paris gewidmet; genauer gesagt, dem Zeitraum vom Ausbruch der Feindseligkeiten im Juli 1870 bis Anfang Februar 1871, als Léon Lescœur nach dem Abschluss des Waffenstillstandes Paris verlassen und zu seiner Familie in Burgund reisen konnte. Den Krieg erlebt Léon überwiegend als Beobachter: Zwar wurde auch er – wie alle Männer – nach der Revolution des 4. September 1870 in die neuformierte Nationalgarde einberufen, er engagierte sich aber nur höchst widerwillig und seine Dienstpflichten beschränkten sich weitgehend auf Wachdienste an den Befestigungsanlagen der Stadt. So können wir verfolgen, wie Lescœur nach Beginn der Kriegshandlungen vergeblich nach verlässlichen Informationen über den Kriegsverlauf und das Kriegsglück sucht, wie er das Leben in der belagerten Stadt beschreibt (und sich bemüht, die möglichen Sorgen der Familie zu zerstreuen), wie er bald nach den ersten Niederlagen immer mehr Distanz zum Regime des Empire und zur Person des Kaisers aufbaut, wie ihn nach dem Sturz des Empire bald die Furcht vor sozialen Unruhen ergreift, wie sich peu à peu auch Léons Deutschlandbild zu einem dezidierten Feindbild wandelt.

Auch hier gelingt es Montbazet vorbildlich, das Einzelschicksal und -zeugnis mit der (in zahlreichen publizierten Quellen niedergelegten) Kollektiverfahrung zusammenzubringen. Denn Lescœurs Beobachtungen und Kommentare sind letztlich wenig originell: Sie repräsentieren die Wahrnehmungen der Bewohner der belagerten Stadt, und zwar vor allem die Wahrnehmungen eines bürgerlichen Beamten, der die materiellen Härten – insbesondere den Hunger – kaum am eigenen Leibe zu spüren hatte.

Gut 30 Jahre nach den Ereignissen ist Léon Lescœur in einem an seine Enkel gerichteten autobiografischen Text noch einmal auf seine Erlebnisse während der »année terrible« zurückgekommen. Der Autor nutzt diese Aufzeichnungen im abschließenden fünften Kapitel einerseits, um die (nicht mehr in Briefen abgebildete) Rückkehr Lescœurs zu seiner Familie zu rekonstruieren, andererseits, um den Wandel seiner Wahrnehmungen zwischen dem eigentlichen Ereignis und dem Moment der Niederschrift seiner Erinnerungen zu analysieren. Tatsächlich hatten sich die Ansichten des inzwischen 84-jährigen Léon erheblich geändert, ja radikalisiert. Das Bild, das er von den Deutschen zeichnet, ist noch einmal deutlich negativer und hasserfüllter, vor allem aber hat er sich von der Republik, der er 1870/1871 noch mit einem gewissen Wohlwollen gegenüberstand, entfremdet. Im Text finden sich nun ideologische Versatzstücke des rechtsextremen Diskurses der Jahrhundertwende, von denen 30 Jahre zuvor noch nichts zu erahnen war: antisemitische Ressentiments, Invektiven gegen die Freimaurerei. Lescœur, so analysiert Montbazet, trauerte einer Welt nach, in der die bürgerlichen Provinznotabeln über natürliche Autorität verfügten und Politik und Gesellschaft dominierten – unabhängig von der politischen Verfassung des Landes.

Nicolas Bourguinat und Gilles Vogt haben mit ihrer »histoire globale« des Krieges von 1870/1871 gezeigt, dass eine globalgeschichtliche Erweiterung der Perspektive neue Erkenntnisse über einen gut erforschten Themenkomplex hervorbringen kann1. Thibualt Montbazet bringt nun mit seiner flüssig geschriebenen und methodisch reflektierten »histoire biographique« den Beweis, dass auch mit einem mikohistorischen Zugriff dieses Ziel erreicht werden kann.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Daniel Mollenhauer, Rezension von/compte rendu de: Thibault Montbazet, Une année terrible. Histoire biographique du siège de Paris 1870‑1871, Paris (Passés/Composés) 2022, 288 p., ISBN 978-2-3793-3355-2, EUR 20,00., in: Francia-Recensio 2023/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.2.96999