Die Ambition dieses Buches ist enorm: Es deckt mehr als zwei Jahrhunderte der wissenschaftlichen Zeitschriftenentwicklung ab, es betrachtet Zeitschriften aus den verschiedenen Perspektiven der Autorenschaft, des Wissenschaftssystems, der Leserschaft und natürlich auch aus der Perspektive der Verleger. Zwar ist eine Konzentration auf den französischen Zeitschriftenmarkt unverkennbar, aber die Betrachtungen zu den angelsächsischen University Presses und dem holländischen Giganten Elsevier sind mehr als Ausflüge ins Transnationale. Inspiriert ist die Studie von der reichen Tradition der Buchgeschichte seit Jean-Henri Martin und Roger Chartier einerseits und der Kultur- und Sozialgeschichte der Wissensproduktion in der Nachfolge des kürzlich verstorbenen Daniel Roche andererseits.
Die Darstellung ist im Wesentlichen chronologisch und setzt mit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein, als Zeitschriften zu einem außerordentlich wichtigen Medium der Zirkulation neuer Ideen, aber vor allem auch Ort des Austausches über solche Ideen und der Prüfung ihrer Validität wurden. Seitdem sind sie über alle Wandlungsprozesse ihrer Form, ihrer Zugänglichkeit und ihrer inneren Organisation in diesen Funktionen nicht mehr wegzudenken aus der kollektiven akademischen Wissensproduktion und bilden einen durchaus attraktiven Market für Verleger, der allerdings seine Tücken hat, wie man an vielen Episoden des Scheiterns nachvollziehen kann.
Nun trifft allerdings die Ambition des Buches, die an die früheren thèses d’État in Frankreich erinnert, als häufig der größere Teil der intellektuellen Karriere in die Produktion sehr umfassender Werke investiert wurde, auf geänderte Rahmenbedingungen eben dieser akademischen Produktion. Die großen Habilitationsschriften erscheinen nicht mehr zeitgemäß, ihre offizielle Abschaffung und die Ersetzung durch ein wesentlich kürzeres und früher in der Karriere zu verfassendes zweites Buch treffen gleichwohl auf fortdauernd hohe Erwartungen an das zu behandelnde Sujet, zu denen in den letzten Jahren neue hinzugetreten sind, die sich vor allem auf die Überschreitung des nationalen Rahmens der jeweiligen Untersuchung beziehen.
Valérie Tesnière, Forschungsdirektorin an der EHESS und Autorin eines äußerst lesenswerten Buches über den Verlag Quadrige zwischen 1860 und 1968 (PUF, 2001), löst das resultierende Problem auf eine für meinen Geschmack nicht ganz befriedigende Weise. Der Begriff der »bibliographie matérielle« gibt ihr zunächst einen methodischen Ausgangspunkt, der zur Analyse der Zeitschriften selbst, ihrer Gliederung in Rubriken, ihrer Modi der Auswahl von Texten und ihrer technischen Herstellung einlädt. Dies erlaubt, von einzelnen Disziplinen und ihren Zeitschriften abzusehen und allgemeinere Trends zu postulieren. Allerdings führt dieses Vorgehen auch dazu, dass die Verfasserin in den überreichen Fundus der Beispiele greift und ihre jeweiligen Schlussfolgerungen pro Zeitabschnitt lediglich illustriert, aber kaum systematisch belegt.
Dieses Hüpfen von Fall zu Fall macht das Buch zu einer Fundgrube anekdotischer Evidenz, die man mit großem Vergnügen und erheblichem Gewinn liest, aber es bleiben eben auch Lücken, die nicht markiert, sondern mit großen Pinselstrichen überdeckt werden. Besonders fällt dies für die Zeit nach 1945 auf, wo drei Seiten genügen müssen, um das Modell der britischen und amerikanischen Universitätsverlage zu erklären, woraufhin französische Initiativen auf weiteren sechs Seiten folgen, an die sich im nächsten Kapitel wiederum Reflexionen über die Zeitschriftenstrategien der Verlage Elsevier und Masson anschließen. All dies ist im Einzelnen hochinteressant, aber es fügt sich weder zu einer transnationalen Einbettung der französischen Verlagsstrategien noch zu einer globalen Typologie der Umgangsweisen mit dem wissenschaftlichen Zeitschriftenwesen. Für jedes dieser beiden Ziele hätte es vermutlich deutlich mehr Platz und wahrscheinlich auch Forschungszeit gebraucht.
So bleibt der Eindruck nach der Lektüre dieses Bandes zwiespältig. Einerseits handelt es sich um eine sehr gut belegte und in vielen Beobachtungen hochinnovative Studie, die das Thema in einer so anregenden Weise erschließt, dass klar wird, warum sich heute so viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dem Diktat des Peer Review und der Messung von Zeitschriften-Impact unterwerfen, warum es für manche so ein hochprofitables Geschäft ist, Zeitschriften zu verlegen, und warum Staaten so lange gezögert haben, sich der Plünderung ihrer Bibliotheksetats durch prohibitive Preispolitiken für die wissenschaftlichen Zeitschriften entgegenzustellen. Dies alles hat eine komplexe Geschichte und viele Aspekte dieser Geschichte präsentiert uns die Autorin in einer sehr angenehm zu lesenden Sprache. Wir lernen auch viel über die stete Wandlungsbereitschaft der Akteure, die an der Produktion von Zeitschriften beteiligt sind, wenn neue Technologien, neue Verbreitungswege (etwa im Zuge der Dekolonisierung) und neue Publika erkennbar wurden. Die wissenschaftlichen Zeitschriften haben seit dem 18. Jahrhundert einen langen Parcours absolviert und doch sind viele Muster besser verstehbar, wenn wir auf ihre Geschichte zurückblicken. Andererseits kann man das Buch auch als eine geballte Aufforderung lesen, den manchmal nur am Einzelbeispiel gestreiften Phänomenen künftig vertieft und in einem tatsächlich transnationalen Vergleich nachzugehen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Matthias Middell, Rezension von/compte rendu de: Valérie Tesnière, Au bureau de la revue. Une histoire de la publication scientifique (XIXe–XXe siècle), Paris (Éditions de l’EHESS) 2021, 103 p. (En temps & lieux, 103), ISBN 978-2-7132-2880-3, EUR 25,80., in: Francia-Recensio 2023/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.2.97179