Feldpostbriefe gehören spätestens seit der Hinwendung der Militärgeschichte zur Alltagsgeschichte zu ihrem festen Quellen-Repertoire. Und doch gibt es noch immer Glücksfunde. Ein solcher ist Corinna von List gelungen. Im Berliner Archiv »Museumsstiftung Post und Telekommunikation« entdeckte die selbstständige Historikerin den privaten Nachlass der zwischen 1940 und 1944 im besetzten Paris eingesetzten Nachrichtenhelferin des Heeres Gertrud Woltmann. Der Fund ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Zum einen aufgrund seines Umfangs – er enthält Hunderte Selbstzeugnisse –, zum anderen aufgrund seiner Laufzeit über die gesamte Besatzungsdauer. Von List und der pensionierten Lehrerin Dorothea Garcia-Cerro ist es zu verdanken, dass ein Teil des Nachlasses heute in gedruckter Form vorliegt. Dabei handelt es sich um eine kommentierte Edition zahlreicher Feldpostbriefe und eines Tagebuchs Woltmanns aus dem Zweiten Weltkrieg. Im Zuge ihrer Recherchen gelang es beiden mit der mittlerweile hochbetagten Dame und ihrer Familie in Kontakt zu treten. So konnte der Band mit Hintergrundinformationen aus einem Interview und Hunderten Fotografien aus dem Familienbesitz angereichert werden.
Der Band gliedert sich nach einer Einleitung mit einer kurzen Biografie in zwei Teile. Der erste und mit 270 Seiten wesentlich umfangreichere Teil (S. 18–297) ist den Briefen Woltmanns in chronologischer Folge gewidmet. Sie werden von Kommentaren begleitet, die Details auch für Nichtspezialisten gut zugänglich machen. Da Woltmann ungewöhnlicherweise über die gesamte Kriegszeit in Paris stationiert blieb und sich durchweg ihrer Familie mitteilte, weisen die Briefe eine außergewöhnliche Kontinuität auf. Leider sind auch sie nicht das Abziehbild der Vergangenheit, das sich wohl jede Historikerin und jeder Historiker wünscht. Was wir lesen, ist vielfachen Einschränkungen wie der Zensur und Selbstzensur unterworfen. »Dazu möchte ich aber weiter nicht viel sagen, so etwas macht man besser mündlich ab«, schrieb Woltmann bezüglich der »politischen Lage« (S. 257). Sie lehnte den Krieg offen ab, mied Veranstaltungen mit »Tendenz« (S. 214) und übernahm nur selten militärischen Duktus. Die genaue Einstellung der fest im christlichen Glauben verwurzelten jungen Frau lässt sich aber nur erahnen. Details zu ihrer Arbeit, zur Sicht auf die Besatzung oder zu ihrem Wissen über Militärisches verlor sie wenig. Auch ausführliche Äußerungen zur Lage der Bevölkerung sucht man vergebens, wiewohl Woltmann deutliche Sympathie für Menschen, Kultur und Land erkennen ließ.
Das lag vermutlich nicht nur an der Zensur, sondern auch an ihrem Bewegungsradius. Denn bei der Lektüre fällt auf, wie stark sich die Nachrichtenhelferin offenbar unter ihresgleichen bewegte. Auch der Adressat oder die Adressatin muss als Filter mitgelesen werden. Gewiss überlegte Woltmann genau, was sie schrieb, z. B. an ihre Mutter, die auf Sicherheit und Ruf der Tochter bedacht war, oder an ihren Vater, seinerseits evangelischer Pfarrer. »Ihr dürft wirklich ganz ruhig sein und braucht Euch keine Sorgen zu machen« (S. 251), formulierte sie ein wohl durchgängiges Motiv hinter der gesamten Briefserie.
So erhält der/die Interessierte also einen (auszughaften) Einblick in das Leben einer Nachrichtenhelferin bei ihrem Auslandseinsatz, über die, wie von List zurecht anmerkt, in der Tat bislang wenig Forschung vorliegt. Zwar finden sich die Themen – Unterbringung, Versorgung, Schichtdienste, Urlaubsmöglichkeiten und das Wetter – auch in vielen anderen Feldpostbriefen. Was Woltmanns Briefe interessant macht, ist aber gerade die Sicht auf diese Themen, die Perspektive einer jungen Frau in einer von Männern und männlichen Idealen dominierten Welt militärischer Ordnung, der Wehrmacht. Und natürlich ihr Einsatzort. Denn Paris glich mitnichten anderen Orten im Zweiten Weltkrieg. Immer wieder thematisierte sie die Unterschiede zwischen ihrer Situation, wie sie meinte »fern allen Kriegsgeschehens (…)« (S. 216), und jener, die, wie sie glaubte, in der Heimat oder an der Front vorherrschte. Die französische Hauptstadt kam Woltmann trotz Besatzung anfangs vor wie ein sich erfüllender »Traum« (S. 25). Ihre Sorgen galten daher nicht der eigenen Gefährdung, sondern der ihrer Familie. Sie beschäftigten Themen des Alltäglichen wie der Mangel an bezahlbarer Kleidung für ihre Uniformierung, der vielfache Umzug in neue Quartiere und das permanent drohende »Gespenst der Versetzung« (S. 236). Viel liest sich auch über ihre Freizeitgestaltung. So bereiste sie Orte in und um Paris, engagierte sich stark im Chor und in der Wehrmachtgemeinde. Interessant sind ihre Berichte von der »Freiheit« des lebendigen religiösen Lebens vor Ort (S. 225). So spiegeln die Briefe auch die Gedankenwelt einer deutschen Protestantin Anfang zwanzig, die aus der Ferne die Situation der Kirchen in Deutschland und die zunehmende Säkularisierung beklagt, sich mitunter aber auch in fatalistischen Formulierungen über Kriegsschrecken hinwegzutrösten sucht.
Vereinzelte fremd anmutende Beschreibungen von Kriegsszenen im letzten Besatzungsjahr (S. 202, 218, 221) verdeutlichen, dass Gewalt erst mit dem Näherrücken der Front 1944 zum alltäglichen Phänomen in Woltmanns Pariser Leben wurde. Die Laufzeit der Briefe ermöglicht Einblicke in den Wandel bestimmter Motive, etwa den erstarkenden Wunsch nach einem Ende des Krieges oder den veränderten Bezug zum Einsatzort in Folge vermehrter Abschiede von den Eltern nach Heimaturlauben. Der letzte Brief datiert vom 15. März 1945, an dem sich Woltmann nach dem Rückzug aus Frankreich und mehrmaligen Versetzungen schließlich mit ihrem Stab im Ruhrgebiet befindet.
Hier setzt der zweite Teil des Bandes an. Er ist den Tagebucheinträgen 1945/1946 gewidmet und fungiert mit 34 Seiten eher als Ergänzung (S. 299–333). Die Einträge ähneln den Briefen, sind aber freier in Bezug auf politische Äußerungen und emotionale Innenansichten. Die Irrfahrten ihrer Dienststelle durch das Rheinland und Ruhrgebiet, Zerstörungen durch den Krieg, Versorgungs- und Unterbringungsfragen, die Angst vor dem Aufeinandertreffen mit dem »Feind« und vor der ungewissen Zukunft sind vorherrschende Themen. Die Sorge um ihre Angehörigen bleibt zentrales Motiv. Am 14. April 1945 wurde Woltmann aus der Wehrmacht entlassen. Angesichts der Rückkehr nach Hause spiegeln sich Freude, Hoffnung auf ein wiedererstarkendes Gemeindeleben und die Suche nach beruflicher und privater Orientierung. Die Einträge geben Einblick in Woltmanns Erleben und Deutung der »letzten wilden Wochen« des Krieges (S. 321), seines Endes und der zweiten Jahreshälfte 1945. Der Idee einer »Stunde Null« entsprechen sie wohl nur bedingt.
Der Band bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für die historische Forschung. Sowohl Militär- und Kirchengeschichte als auch Besatzungsforschung und Gender Studies werden ihn mit Interesse aufnehmen. Bisweilen scheint die große Sympathie der Herausgeberinnen für Woltmann durch. Interessant wäre eine Erweiterung durch einen einordnenden Essay zur Besatzungsgeschichte aus französischer Perspektive gewesen, nicht nur zur Kontrastierung, sondern auch, um der transnationalen Dimension des Einsatzes der Nachrichtenhelferin weiter Rechnung zu tragen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Julika Badstieber-Waldt, Rezension von/compte rendu de: Gertrud Woltmann, Meine Lieben daheim! Briefe aus Paris 1940–1944, hg. von Corinna von List, Dorothea Garcia-Cerro, Berlin (Lukas Verlag) 2022, 350 S., ISBN 978-3-86732-409-0, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2023/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.2.97180