1600 Jahre nach dem angenommenen Geburtsjahr der heiligen Genovefa (c. 420–500/502) hat die Académie des inscriptions et belles-lettres eine große interdisziplinäre Tagung zu der Pariser Heiligen und der ihr zu Ehren gegründeten Abtei veranstaltet, deren Akten nun erschienen sind. Der Band vereinigt 19 Beiträge, die in drei chronologischen Blöcken zur spätantiken Welt Genovefas, zu ihrer Verehrung im Mittelalter und der Frühen Neuzeit sowie zur »Renaissance« Genovefas nach der Revolution bis heute organisiert sind. Die Autorinnen und Autoren vertreten die Archäologie, Geschichtswissenschaft, Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft und Musikwissenschaft.

Die Beiträge haben zum Ziel, die vielfältigen Überlieferungen zu Genovefa und Sainte-Geneviève fächer- und epochenübergreifend auf dem neuesten Stand der Forschung zu präsentieren. Damit füllt der Band eine Forschungslücke, da die vorliegenden monografischen Gesamtdarstellungen aus den Jahren 1846 (P. Saintyves), 1883 (P. Féret) und 1985 (L. Beaumont-Maillet, J. Dubois) thematisch und methodisch viel enger gefasst sind und viele der mittlerweile erschlossenen Überlieferungen nicht berücksichtigen konnten.

Unter dem Titel »Genovefa erzählen« erläutern die Herausgeber Marie-Céline Isaïa und Michel Sot einführend die Perspektiven der transdisziplinären Zusammenschau (S. 17–29). Ersterer verdankt die Forschung die 2020 gemeinsam mit Florence Bret vorgelegte kritische Edition und Übersetzung der älteren Vita Genovefae (VGA), eines Textes, dessen komplexer Text- und Überlieferungsgeschichte auch der erhellende Gastbeitrag von Joseph-Claude Poulin gewidmet ist (S. 65–95).

Im ersten Abschnitt, der sich mit Genovefas Wirken und Umwelt in der spätrömischen und frühfränkischen Zeit befasst, beschreibt Jacques Legriel zunächst die faszinierenden archäologischen Funde in der spätantiken Nekropole von Nanterre, welche die Persistenz heidnischer Kulte in Gallien zwischen dem 3. und 5. Jahrhundert bezeugen (S. 31–41). Der Christianisierung im Pariser Becken im frühen 5. Jahrhundert wendet sich Michel-Yves Perrin zu. Aus einer Vielzahl von Überlieferungen, darunter die weniger bekannten Schriften des Bischofs Victrius von Rouen, macht der Verfasser auf die engen Beziehungen zwischen Gallien und Italien und auf eine bereits differenzierte Kirchenorganisation aufmerksam (S. 43–63). Im genannten Beitrag von Poulin werden »Schlüsselszenen« der VGA definiert (S. 73f.), auf die der vorliegende Band immer wieder zurückkommt: das Verhältnis zwischen Genovefa und dem Bischof Germanus von Auxerre, die hunnische Bedrohung Galliens, die ersten Bauarbeiten in Saint-Denis und die Beziehung Genovefas zu den fränkischen Eliten, darunter Childerich, der Vater Chlodwigs.

Eine weniger bekannte Beziehung nimmt der folgende Beitrag von Claire Fauchon-Claudon in den Blick, der, ausgehend von der Bemerkung der VGA, Genovefas Ruf habe sich bereits zu Lebzeiten bis nach Syrien verbreitet, die Bedingungen und raren Zeugnisse wechselseitiger Wahrnehmung von Christen in Syrien und Gallien verfolgt und dabei zu einem erstaunlich dichten Beziehungsnetz gelangt (S. 97–127). Jérémy Delmulle kann hingegen weniger Neues beisteuern, wenn er die Kritik des Pelagianismus in der VGA mit den bereits bekannten Parallelquellen, vor allem der Chronik Prosper Tiros von Aquitanien, verknüpft (S. 129–166). Der abschließende Artikel des ersten Abschnitts, in dem Edina Bozóky auf der Grundlage der VGA den Kult der Pariser Schutzheiligen nachzeichnet, weist weit über die Spätantike hinaus, wenn hier einzelne markante Zeugnisse zwischen dem 9. und 17. Jahrhundert behandelt werden (S. 167–180).

Die zweite Sektion ist ebenfalls exemplarisch angelegt und bietet neben den prominenten Wegmarken der Geschichte von Sainte-Geneviève auch methodisch innovative und weniger bekannte Themen. Thierry Kouamé ordnet zunächst eher traditionell die Abtei in die Geschichte der Pariser Studien des hohen und späten Mittelalters ein (S. 183–203), bevor Hélène Noizet und Marlène Helias-Baron in ihrer innovativen Fallstudie zur Wasserversorgung von Sainte-Geneviève und Saint-Victor die Möglichkeiten aufzeigen, die der Forschung mittlerweile durch präzise und aktenkundige Kartierungen der historischen Pariser Topografie zur Verfügung stehen (S. 205–239).

Die spätmittelalterlichen Prosafassungen der »Vie de sainte Geneviève« in französischer Sprache, die Françoise Laurent einer literaturhistorischen Analyse unterzieht, stellen eine wichtige Ergänzung zur deutlich besser erforschten lateinischen Tradition dar (S. 241–256). Isabell Brian wendet sich nachfolgend den Reformen des 17. Jahrhunderts zu, in deren Zuge der Konvent von Sainte-Geneviève an die Spitze der französischen Kongregation der regulierten Augustiner-Chorherren trat (S. 257–271). Zwei Motetten zu Ehren der heiligen Genovefa aus dem letzten Viertel des 17. Jahrhunderts, komponiert von Marc-Antoine Charpentier, stehen im Mittelpunkt der musikhistorischen Skizze von Jean Duron, in deren Anhängen die vollständigen Texte abgedruckt werden (S. 273–299). Die sozialen Milieus der Genovefa-Verehrung vor der Französischen Revolution beschäftigen den Beitrag von Laurent Croq (S. 301–314), mit dem die zweite Sektion beschlossen wird.

Der Kunsthistoriker Alexandre Gady, dessen Expertise in der Pariser Sakralarchitektur der Neuzeit in zahlreichen Publikationen unter Beweis gestellt wird, eröffnet den Blick auf die neuzeitliche »Renaissance« der Genovefa-Verehrung in Paris. Sein Beitrag zur baulichen Umgestaltung der Basilika Sainte-Geneviève in der Neuzeit setzt mit dem Metzer Gelübde Ludwigs XV. von 1744 ein, auf das auch der Neubau des Chores von Notre-Dame de Paris gründet (S. 317–326). Genauso wie der folgende Beitrag von Paul Choepelin zur Zerstörung der Genovefa-Reliquien durch die Revolutionsregierung im November 1793 hätte sich auch die architekturgeschichtliche Würdigung durch Gady für eine stärker vergleichende Einbeziehung der anderen Pariser Sakralbauten und ihres Schicksals im 18. Jahrhundert angeboten, die leider in beiden Fällen unterbleibt. Einen instruktiven Einblick in die wechselvolle Pariser Geschichte des 19. Jahrhunderts bietet die Studie von Rémy Hème de Lacotte zum Genovefa-Kult bei den politisch-sozialen Umbrüchen im Gefolge des Konkordats von 1801 (S. 357–388).

Drei abschließende Skizzen greifen die Interpretationen der Pariser Schutzheiligen in der Malerei und literarischen Produktion des späten 19. und des 20. Jahrhunderts auf: François de Vergnette zeigt, wie »die betende Schäferin von Nanterre« (Chavannes) zu einem beliebten Motiv der »Fin-de-siècle«-Künstler in Frankreich wurde (S. 389–406); Isabelle Saint-Martin verfolgt, wie sich das Bild Genovefas in der Zwischenkriegszeit wandelte und das Bedürfnis nach der Schutzpatronin einen wahren Boom der künstlerischen Produktion auslöste (S. 407–450). Ein ähnlicher Befund ergibt sich aus der Beobachtung der Genovefa-Rezeption in der französischen Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Florian Michel mit Exkursen zur Alltagsgeschichte kombiniert, so etwa einer Statistik zum Vornamen Geneviève in Frankreich, die um 1940/50 einen enormen Anstieg verzeichnet (S. 451–468). Der abschließende Beitrag von Marie-Hélène de la Mure, der Generalkonservatorin der renommierten Bibliothèque Sainte-Geneviève, zeichnet schließlich die kulturelle Bedeutung der Heiligen und ihrer Pariser Abtei im Lichte der bibliothekarischen Schätze aus Sainte-Geneviève nach (S. 469–487).

Der sorgfältig redigierte und qualitätvoll bebilderte Band wird durch Namen- und Sachregister erschlossen. In der Bandbreite der Forschungsergebnisse, der beteiligten Disziplinen und der methodischen Zugänge ist den Herausgeberinnen und Herausgebern ein Meilenstein in der Erforschung eines der zentralen Pariser Klöster und seiner Titelheiligen gelungen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Jörg Oberste, Rezension von/compte rendu de: Nicole Bériou, Marie-Céline Isaïa, Michel Sot, Nicolas Grimal (dir.), Sainte Geneviève. Histoire et mémoire. Actes du colloque organisé par l’AIBL, le Collège des Bernardins, Sorbonne-Université, la Bibliothèque Sainte-Geneviève et le Comité d’histoire de la ville de Paris, les 3–5 novembre 2021, Paris (Académie des inscriptions et belles-lettres) 2022, 526 p., 116 ill., ISBN 978-2-87754-695-9, EUR 50,00., in: Francia-Recensio 2023/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.3.99782