Die »genèse de la Hanse« hat Generationen von Hanseforscherinnen und -forschern Rätsel aufgegeben, scheint doch dieses über mindestens drei Jahrhunderte so überaus wirkmächtige Netzwerk aus Kaufleuten und Städten geradezu aus dem Nichts während der dynamischen Veränderungen Nordeuropas im 13. Jahrhundert enstanden zu sein. Schon im 15. Jahrhundert machte man sich füglich auf die Suche nach einer Gründungsurkunde, weil man sich diese eigenartige Emergenz nicht recht vorstellen konnte – und fand keine, weil es ziemlich sicher nie eine gegeben hat.
Um es gleich vorwegzunehmen: Auch die jetzt im Druck erschienene Pariser Dissertation von Tobias Boestadt hat keine einfachen Antworten parat, wie es zu diesem bemerkenswerten Kohäsionsprozess kommen konnte. Der schiere Umfang von über 800 Seiten legt davon schon äußerlich Zeugnis ab. Aber er liefert eine detaillierte Sichtung vieler kleinerer und größerer Knotenpunkte, aus denen sich das Netzwerk, das sich später »Hanse« nennen sollte, nach und nach zusammenknüpfte. Er untersucht damit eine Zeit, in der es durchaus noch mehrere »Hansen« gab, in der Kaufleute sich an ihren Zielorten miteinander zu verbinden begannen und in der sich die situativen, auf einzelne Regelungsanlässe bezogenen Absprachen und Bündnisse einzelner Städte immer anschlussfähiger für andere zeigten und so Anlass zur Erweiterung boten. Er zeigt damit aber eben auch, dass es nicht nur die zwischenstädtische Diplomatie war, die an der Wiege der Hanse stand. Vielmehr untersucht Boestadt mit viel Fingerspitzengefühl die Entstehung des »marchand commun« als gleichsam nach innen wirkender Denkfigur, die nicht nur dem Zusammenschluss im Ausland, sondern auch der aktiven Identitätsbildung (Boestadt spricht ausdrücklich von »faire communauté«, vom »doing community«) in den Städten des Nord- und Ostseeraums diente. Gerade dieser Gruppenbildungsprozess als Dreh- und Angelpunkt der gesamten Arbeit ist höchstspannend und wird vom Verfasser detailliert und überzeugend nachgezeichnet.
Die vor allem in der älteren Hanseforschung stark gemachten Vereinheitlichungsbestrebungen im rechtlichen Bereich als Entstehungsimpetus der Hanse lehnt Boestadt ausdrücklich ab. Dabei schließt er sich neueren Arbeiten zur Konfliktlösung im Hanseraum an, wie sie etwa Philipp Höhn (»Kaufleute im Konflikt«, 2021) jüngst vorgelegt hat. Hier würde der Rezensent vorsichtig anfragen, ob über dem plausibel belegten Interesse der Kaufleute an Rechtsvielfalt und der daraus resultierenden Eigenexpertise für Schlichtungsverfahren nicht auch die Interessen der Städte noch näherer Untersuchung bedürften, ob also nicht, kurz gesagt, aus einer berechtigten und spannenden Perspektivverschiebung von der (älteren) normfixierten Rechtsgeschichte auf die dynamischere Praxis und die Kaufleute nicht das eine oder andere Kind mit dem Bade gleich mit ausgeschüttet wird. Das muss aber erst einmal als Frage offen und zukünftigen Studien anheimgestellt bleiben.
Boestadt lässt sich von einem ausdrücklich politikhistorischen, an Fragen der internationalen Beziehungen orientierten Ansatz leiten. Deshalb steht für ihn der Begriff des régime an zentraler Stelle, den auch Albrecht Cordes, Philipp Höhn und Alexander Krey (»Hansische Geschichtsblätter« 134 [2016]) – allerdings in etwas anderer Wendung – in jüngerer Zeit in die Hanseforschung eingebracht haben. Die Hanse als »internationales Regime« im Sinne einer regelgeleiteten Form länderübergreifender Kooperation von mitunter auch heterogenen Einzelakteuren zu begreifen, ermöglicht es ihm, die letztlich kaum zu beantwortende Frage nach der Rechtsnatur der Hanse ein Stück weit auszublenden und stattdessen Fragen nach dem Handeln der einzelnen Städte (weniger der Kaufleute) und der mit ihnen in Kontakt tretenden europäischen Mächte jenseits rechtlich vorgegebener Strukturen zu stellen. Das ist ein durchaus anregender Ansatz. Er denkt die aus vor allem wirtschaftshistorischer Perspektive formulierten Netzwerkmodelle nicht radikal anders, sondern zeigt sich komplementär und anschlussfähig. Wirklicher Kern dieser Arbeit ist aber nicht dieser Neuansatz, der vor allem begriffliche Schärfungen auf durchaus gar nicht so neue Entwicklungen in der Hanseforschung verspricht, sondern die beeindruckende Materialdurchdringung. Diesem Buch ist breite Rezeption auch in der deutschsprachigen Forschung – und dafür wohl: eine baldige Übersetzung – sehr zu wünschen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Hiram Kümper, Rezension von/compte rendu de: Tobias Boestadt, Pour le profit du commun marchand. La genèse de la Hanse (XIIe siècle–milieu du XIVe siècle), Genève (Librairie Droz) 2022, 820 p. (Hautes études médiévales et modernes, 116), ISBN 978-2-600-05753-0, EUR 92,00., in: Francia-Recensio 2023/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.3.99785