In den Jahren 1135 bis 1153 verfasste Bernhard von Clairvaux seine 86 »Sermones super Cantica Canticorum«, die nicht nur für die Theologie, sondern angesichts ihrer gehobenen Stilistik und historischen Bezüge beispielsweise auch für die mittellateinische Philologie und die Geschichtswissenschaft von Interesse sind. Im Zentrum der Studie von Stefan Constantinescu steht die 74. Predigt, in der Bernhard davon berichtet, wie ihn das »Verbum Dei« heimsuchte. Ausgehend von diesem Text, möchte Constantinescu die zentrale Bedeutung des Konzepts der »visitatio Verbi« für die Theologie Bernhards herausarbeiten und dabei auch nach dessen Relevanz für die Theologie des 21. Jahrhunderts fragen (S. 13). Dafür will er dem Schreibanlass Bernhards auf die Spur kommen und klären, ob es ihm mit dem Text um die Unterweisung des Nächsten oder die Erinnerung einer mystischen Erfahrung geht. In diesem Zusammenhang stellt er auch die Frage nach dem Wirklichkeitsverhältnis von Sprache und Erfahrung (»dans quelle mesure le récit de la ›visitatio Verbi‹ transmet une densité d’ordre ontologique?«, S. 16).
Der erste Teil der Arbeit widmet sich ausführlich der Frage nach der Versprachlichung der »visitatio« Erfahrung, während der zweite das besagte ontologische Verhältnis von Sprache und Erfahrung untersucht, mit einem gewissen Schwerpunkt auf ästhetischen Gesichtspunkten. Constantinescu zufolge erzeuge die Wortkunst eine ikonische Realität (»l’art des paroles en tant que réalité iconique«, S. 91); wie eine Ikone solle die Sprache das Unsagbare ausdrücken (S. 94). Es geht in der Konsequenz um die im Menschen bewirkte Veränderung, die Vergöttlichung durch den logos. Der dritte Teil schließlich verfolgt diese Transformation des Menschen weiter, bespricht die Rolle der Selbsterkenntnis und beschreibt die Effekte der »visitatio Verbi«, die in die Erkenntnis der Trinität mündet.
Die Arbeit folgt theologischen Interessen und zielt unter anderem auf einen Dialog von Bernhards Ideen und orthodoxer Theologie ab. Welche Impulse die Studie hierfür gibt, kann an dieser Stelle nicht beurteilt werden. Wer sich grundsätzlich für das Denken des Abtes und dessen Ausdrucksform im Medium eines sermo interessiert, wird auf jeden Fall dazu angeregt, die »Heimsuchung des Wortes« stärker zu berücksichtigen – in Bernhards Texten wie auch anderweitig.
Getrübt wird die Lektüre allerdings durch gewisse methodische Schwächen und einen mitunter allzu affirmativen Stil. Grundsätzlich fällt auf, dass viele Fragen aufgeworfen werden, die dann aber nicht beantwortet werden bzw. dass keine Hinweise auf ein späteres Aufgreifen gegeben werden. So heißt es etwa auf S. 33: »En plus, une question émerge dans notre esprit, celle de savoir si le verbe ›visiter‹ est plutôt utilisé dans le sens que l’on trouve dans la Bible […], ou bien s’il prend un sens spécifiquement bernardin.« Daraufhin werden jedoch weiter stilistische Wortspiele besprochen. Erst auf S. 63 erfährt man, dass Bernhard den Begriff in biblischer Tradition verstehe, was sich für Constantinescu aus einem kurzen Vergleich mit dem hebräischen und griechischen Wortlaut ergibt. Die Bedeutung der Heimsuchungserfahrung wird eher affirmativ bestätigt als argumentativ hergeleitet. Wenn Constantinescu schreibt, dass Bernhard durch seine Wortspiele und andere Stilmittel diese Bedeutung offenbare (S. 35, 40), müsste geprüft werden, wie er an anderen Stellen das Stilmittel einsetzt. Fraglich ist auch, wie man argumentativ nachweisen kann, dass die Heimsuchungserfahrung selbst wiederum die Wahl bestimmter Terminologien bewirkt, wie es Constantinescu zeigen möchte (S. 42: »Autrement dit, dans quelle mesure l’expérience de la visite détermine le choix terminologique et quel est l’effet sur la langue utilisée?«). Man müsste schon Bernhard selbst sein, um bestätigen zu können, dass eine bestimmte Erfahrung zu einer bestimmten Ausdrucksweise führte. Damit vergleichbar sind spätere Formulierungen wie »nous sommes convaincus que ›le fruit de son discours‹ se réfère à l’expérience intérieure du Verbe qui l’inspire« (S. 78) oder Behauptungen wie jene, dass der Schreibgrund Bernhards einer inneren Notwendigkeit entspringe, ohne dass Belege dafür angeführt werden (S. 79).
Die Herausarbeitung der Liebestopik in den sermones erfolgt recht umfassend, aber vor allem als Wiedergabe älterer Forschungsmeinungen, die der Autor auch an anderen Stellen aufs Ausführlichste zitiert und referiert. Aufgeführt wird auch eine Liste derjenigen Begriffe, die Bernhard zur Beschreibung der Erkenntnis des »Verbum« und zur liebevollen Beziehung dazu verwendet (S. 54–60). Angesichts der angekündigten Fragen und Hypothesen zur Bedeutung der Sprache für die Theologie Bernhards fällt das Ergebnis aber etwas unbefriedigend aus: »Ce champ sémantique nous confirme que Bernard a développé une terminologie riche pour exprimer la relation entre l’âme et le Verbe-Époux« (S. 61).
Eine Frage, die für die Predigtforschung von ungebrochenem Interesse ist, besteht in dem Verhältnis von überliefertem Text und gesprochener Rede. Leider geht Constantinescu auf diese Problemstellung nicht näher ein. Zu Beginn seiner Studie schreibt er von »lecteurs/auditeurs« (S. 3) als Rezipienten, später spricht er von der emotionalen Ebene zwischen »auteur« und »auditeurs« (S. 41). Angesichts der Bedeutung der Versprachlichung für theologische Schlussfolgerungen (»le langage est plus qu’un signe conventionnel, il crée véritablement la dimension d’une réelle présence, vécue par l’auteur«, S. 17), wäre diese Frage aber gleich zu Beginn der Untersuchung zu klären gewesen. Bei der stilistischen Analyse geht der Autor auch auf Kryptogramme ein, die ja nur schriftlich zu entdecken sind (S. 29f.). Hierbei hätte man sich wenigstens kurze Bemerkungen zur Optik der wichtigsten handschriftlichen Textzeugen gewünscht. Spätestens aber bei der Analyse der Silbenzahl einzelner Kola wäre die Einbeziehung der handschriftlichen Überlieferung nötig gewesen, da Constantinescu in der Ab- und Zunahme der Silben auch ein grafisches Stilmittel Bernhards sieht, das Constantinescu selbst zu einer Art Trichter gestaltet (S. 40f.).
Erst zum Ende des ersten Teils greift Constantinescu die Problemstellung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit der sermones auf und schließt sich der Meinung von Jean Leclercq an, wonach die Texte wohl nur zur Lektüre gedachten waren: »Les sermons bernardins sont en quelque sorte une prédication écrite de style oral« (S. 78). Wenigstens eine kurze Auseinandersetzung mit der Predigtforschung, namentlich mit Christopher John Holdsworth (Were the Sermons of St. Bernard on The Song of Songs ever Preached?, 1998), wäre hier angebracht gewesen. Durch die »simultanéité écrit-oral« entstehe jedenfalls eine bildliche Dimension des Textes – eine Folgerung, die der Autor benötigt, um zu seiner These zu gelangen, dass sich so das »ikonische Sein« des Autors enthülle (S. 80). Da der Sprachgebrauch Bernhards die »lingua Verbi« imitiere, werde er zum »Träger einer ikonischen Realität« (S. 85) – dieser Konnex ist Ausgangspunkt weiterer Überlegungen, wie Bernhard mit der orthodoxen Theologie ins Gespräch gebracht werden kann.
Da die Versprachlichung religiöser Erfahrung das Hauptinteresse der Arbeit ist und die Analyse der Wortwahl bedeutenden Raum einnimmt, stellt sich abschließend die methodische Frage, ob vor diesem Hintergrund die Arbeit mit der Datenbank »Library of Latin Texts – Serie A (LLT-A)« ausreichend ist (erläutert S. 4, mit Verweis auf einen nicht auffindbare »annexe 1«)1. Den Texten liegen zwar kritische Editionen zugrunde, jedoch wird der kritische Apparat selbst nicht angezeigt. Wenn die theologischen Konsequenzen von Wortformen wie invisere, visitans, adventasse und visitatio herausgearbeitet werden (S. 21–29), wären ein paar Sätze zur Überlieferung und Textstabilität an diesen Stellen angebracht gewesen. Schließlich fragt man sich auch, ob neben dem einen Treffer für adventasse in den Werken Bernhards nicht auch die anderen neun Flexionsformen in der Analyse hätten berücksichtigt werden müssen (dafür hätte die »similarity search« der Datenbank gewählt werden müssen), was analog für die drei anderen genannten Wortformen gilt. Außerdem schleichen sich die Fehler der Datenbank in den Text der Monografie ein: Die angehängte Konjunktion -que wird von LLT-A stets fälschlich abgetrennt, was Constantinescu reproduziert (z. B. S. 25: mihi que). So wird sie leicht mit der mittelalterlichen Schreibweise von quae verwechselt.
Für diejenigen Leserinnen und Leser, die diesen Kritikpunkten weniger Gewicht beimessen, bietet die Studie mit ihren vielen Quellenzitaten in jedem Fall eine Würdigung der unbestreitbaren sprachlichen Kunst Bernhards von Clairvaux.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Anne Greule, Rezension von/compte rendu de: Stefan Constantinescu, »Visitatio Verbi« dans les Sermons »In Cantica« de Saint Bernard de Clairvaux, Münster (Aschendorff) 2022, 384 p. (Studia Oecumenica Friburgensia, 109), ISBN 978-3-402-12269-3, EUR 54,00., in: Francia-Recensio 2023/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.3.99793