Die Quellen über Alain von Lille († 1202/03) sind nicht allzu zahlreich, doch der Großteil der historiografischen Zeugnisse über ihn hat eines gemeinsam: Sie erwähnen ihn als Verfasser des »Anticlaudianus«, eines über 4300 Hexameter umfassenden Epos. Darin wird beschrieben, wie die mit dem Menschengeschlecht unzufriedene »Natura« einen neuen Menschen schaffen will. Dies gelingt, indem die personifizierten Tugenden Ratio und Prudentia auf eine Himmelsreise geschickt werden, auf der Prudentia von Gott eine Seele erhält; im Anschluss wird mit Hilfe aller Tugenden ein homo novus geschaffen. Aus einem Kampf der Laster gegen die Tugenden gehen letztere siegreich hervor, und das Goldene Zeitalter bricht an.
Während der vordergründige Inhalt der Erzählung so in wenigen Sätzen grob skizziert werden kann, lässt sich die Frage nach ihrem »eigentlichen« Sinn nicht einmal ansatzweise so knapp beantworten. Die »das Wahre verhüllende« Dichtung (integumentum) des Magisters hat eine überaus reichhaltige Forschungsliteratur hervorgebracht, die mögliche philosophisch-theologische und literaturtheoretische Aussageabsichten erörtert.
Florent Rouillé hat sich der schwierigen Aufgabe angenommen, das vieldeutige Werk erstmals ins Französische zu übersetzen und zu kommentieren. Zwar wurde es bereits 1955 von Robert Bossuat kritisch ediert, doch bisher lagen nur Übersetzungen ins Englische, Italienische und Deutsche vor. Rouillé ergänzt seine über 500 Seiten umfassende Textarbeit sogar noch um eine fast 250 Seiten lange literarische Studie. Der Erschließung dienen ein Werks- und Autorenindex, ein Index moderner Autorinnen und Autoren (ab dem 16. Jh.) und ein Index der Eigennamen des »Anticlaudianus«, der auch die zahlreichen Personifikationen enthält; auf der Internetseite des Verlags ist zusätzlich ein Wortindex abrufbar. Der gedruckte Band enthält kein Vorwort, doch lässt sich leicht herausfinden, dass er auf Rouillés Doktorarbeit beruht, die er im Jahr 2007 verteidigt hat1.
Während eine Übersetzung glücklicherweise nicht so schnell altert, merkt man dem Studienteil doch ein gewisses Alter an, aber auch der Forschungsstand vor 2007 wurde nicht immer gründlich berücksichtigt. Die Bibliografie verzeichnet zwar vereinzelt Titel bis 2019, diese spielen jedoch für die Argumentation der Studie keine Rolle. Aufgeführt werden u. a. Editionen2 und Übersetzungen des »Anticlaudianus« und anderer Werke sowie Studien speziell zu Alain von Lille. Hier wäre angesichts von Dopplungen, zahlreichen Schreibfehlern und falschen Namen ein gründlicheres Lektorat wünschenswert gewesen.
Die einleitende Studie beginnt mit der schon vielfach gestellten Frage, wer Alain von Lille eigentlich war. Es erweist sich als folgenschwer, dass Rouillé dafür zunächst zwei exempla zitiert (»anecdotes biographiques«, S. 7), die einer zisterziensischen Tradition entspringen und Alain von Lille als zum Konversen bekehrten Magister präsentieren3. Ohne deren Ursprünge und Aussageabsichten näher zu reflektieren, setzt er damit den argumentativen Rahmen der Studie: War Alain quasi ein Abaelard, der zu einem Bernhard von Clairvaux wurde (S. 9)? Wie muss man den »Anticlaudianus« in dieser vermeintlichen Laufbahn (»supposée trajectoire«, S. 9) verorten, in der Abkehr von der Vernunft des Philosophen zur Spiritualität des Klosters?
Rouillé reproduziert damit die dichotomische Sichtweise auf das 12. Jahrhundert und Alain im Speziellen, konzentriert in den Schlagwörtern »Scholastik und Monastik« als sich feindlich gegenüberstehenden Wissensordnungen, die so von der jüngeren Forschung mehrheitlich nicht mehr vertreten wird. Wie in der älteren Forschung führt dies auch bei ihm zu einem verengten Blick auf einen Akteur des 12. Jahrhunderts, der sich in dieser Logik zwischen den Polen einer quasi präaufklärerischen, säkular gedachten Philosophie und einer eher vernunftfeindlichen Theologie bewegen musste. Der »Anticlaudianus« wird im (sehr schematisch dargestellten) Spannungsfeld theologischer Debatten der 1140er-Jahre gelesen, ungeachtet der Tatsache, dass er erst 40 Jahre später entstand. Insofern ist es fast schon wieder vorteilhaft, dass dieser Zusammenhang in der literarischen Studie nicht allzu oft aufgegriffen wird.
Vor der eigentlichen literarischen Studie geht Rouillé noch auf die Biografie Alains von Lille ein, wobei er den vielfach kritisierten Thesen von Françoise Hudry über Alains Identität mit Alan von Canterbury/Tewkesbury Positives abgewinnen will. Vor dem Hintergrund dieser vermeintlichen England-Bezüge schreibt er auch das Gedicht »Brutus« Alain zu4. In Rouillés Diskussion um Alains Geburtsdatum fehlt eine abschließende Festlegung, es zeigt sich aber, dass er von ca. 1115-1120 ausgeht5, weswegen er auch noch Alains Schülerschaft bei Gilbert von Poitiers annehmen kann – hier hatte bereits d’Alverny (1965) berechtigte Zweifel angemeldet. Weitere Überlegungen zum »Sitz im Leben« des Werks aus der Feder eines Magisters in Paris und Montpellier finden sich leider nicht. Wie auch an anderen Stellen der Studie wäre in diesem biografischen Teil eine etwas dichtere und gründlichere Belegpraxis wünschenswert gewesen6.
In der anschließenden »Étude littéraire« stellt Rouillé zunächst fest, dass es kaum Literatur zu Alain als Dichter gebe, die über einzelne Aufsätze hinausgehe. Dementsprechend knapp handelt er ab, wie er sich in seiner Studie von Guy Raynaud de Lage (1951), Peter Ochsenbein (1975) und James Simpson (1995) absetzen und im Wesentlichen die Ansätze seiner directrice de thèse, Perrine Galand-Hallyn, weiterdenken möchte. Bereits hier, noch stärker in Rouillés ausführlicher Auseinandersetzung mit der integumentalen Hermeneutik und den Prologen Alains und seiner Zeitgenossen, hätte man sich die Einbeziehung der diesbezüglichen Überlegungen von Christel Meier(-Staubach) (1977) und Frank Bezner (2005) gewünscht. Auch die folgende Interpretation des Textes greift den Dialog mit der Forschung nur selten auf.
Nach einigen Bemerkungen zum möglichen Einfluss der »Ars versificatoria« des Matthäus von Vendôme auf den »Anticlaudianus« skizziert Rouillé kurz, wie er aufbauend auf Gérard Genette den »Anticlaudianus« als Palimpsest lesen und dessen Hypotexte herausarbeiten will. Um die Autorenintention analysieren zu können, stützt er sich vor allem auf den Werkstitel »Anticlaudianus«. In der Folge liest er das Epos, dem Forschungskonsens folgend, als literarische Verarbeitung des »In Rufinum« (396) von Claudius Claudianus. Darüber hinaus vermutet Rouillé aber aufgrund des Titels auch eine Auseinandersetzung mit dem »De statu animae« des Claudianus Mamertus (5. Jh.).
So verdienstvoll es ist, die Bedeutung des Claudianus Mamertus für das 12. Jahrhundert herauszustellen und hier speziell zu Alain neue Fragen aufzuwerfen - es ist richtig, dass Alain Mamertus an anderen Stellen zitiert -, so wichtig wäre es gewesen, über den Titel des Epos selbst nachzudenken. Gibt es Hinweise darauf, dass Alain selbst dem Epos diesen Titel gab? Nur eine historiografische Notiz aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhundert behauptet dies; die Geschichtsschreiber zuvor sprechen nur unpersönlich davon, dass das Buch so genannt werde. Zudem läuft die Studie Gefahr, mit der Herausarbeitung der möglichen Bezüge zu »De statu animae« erneut eine den Text überstrapazierende Engführung der Interpretation zu erzeugen. Dementsprechend fraglich ist die abschließend vorgebrachte These, dass die im »Anticlaudianus« erfolgte Auseinandersetzung mit der Seelenlehre eine Vollendung von Alains unvollständiger Summa »Quoniam Homines« darstelle (S. 236-240).
In jedem Fall positiv hervorzuheben ist, dass Rouillé die Bedeutung spätantiker Werke für die Konzeption und Wortwahl des »Anticlaudianus« verstärkt diskutiert, wozu neben den Texten der beiden Claudiane auch Sidonius Apollinaris gehört. In den Editionskommentaren von Bossuat wurde der Großteil der literarischen Referenzen noch unhinterfragt den antiken Klassikern, wie Ovid und Vergil, zugewiesen. Eine auffällige Parallele des »Anticlaudianus« zu einem Brief des Sidonius (S. 208f.) wurde bereits 2020 von Jesús Hernández Lobato aufgezeigt. Dankenswert sind auch Rouillés Übersetzungen von Paratexten zum »Anticlaudianus« im Rahmen seiner literarischen Studie.
An diese schließt der Übersetzungs- und Kommentarteil an, wobei der lateinische Text von Bossuat mit kleineren Korrekturen übernommen wird. Die Änderungen an Bossuats Interpunktion (S. 244) überzeugen ebenso wie die meisten der gesichteten Übersetzungsentscheidungen – hier werden sich, bei einem über 4300 Verse umfassenden Werk, sicher immer Stellen finden lassen, für die es auch andere Übersetzungsmöglichkeiten gibt7. Dasselbe gilt für den umfassenden Kommentar – allein zu den etwa 500 Versen des 1. Buchs werden 34 Seiten Kommentierung geboten – der mitunter auch andere Hinweise und Bezugnahmen erlauben würde8. Auch hier ist aber der Gewinn im Vergleich zu den knappen Anmerkungen in der Edition Bossuats zu betonen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Anne Greule, Rezension von/compte rendu de: Alain de Lille, Anticlaudianus. Édité et traduit par Florent Rouillé, Genève (Librairie Droz) 2023, 832 p. (Rayon Histoire de la Librairie Droz, 10), ISBN 978-2-600-06335-7, EUR 79,91., in: Francia-Recensio 2023/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.3.99796