Die Reihe »Le Coureur des fonds« der Presses universitaires du Midi verfolgt das Ziel, an Universitäten des frankophonen Sprachraums erarbeitete Quelleneditionen zur mittelalterlichen Geschichte in Französisch, Latein und Okzitanisch zu publizieren. Sie möchte damit eine Tradition aufgreifen, die in den letzten Jahren nicht ausreichend gefördert worden sei und dazu beitragen, bisher noch unerschlossenes Archivmaterial zugänglich zu machen. Ein kurzes Vorwort von Judicaël Petrowiste vermittelt einen ersten Eindruck der von Lionel Germain edierten Texte, der Livres d’ordonnances consulaires von Najac und Villeneuve en Rouergue aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Diese Edition steht in Zusammenhang mit dem Dissertationsprojekt L. Germains, das sich mit der Entstehung und Weiterentwicklung mittelalterlicher Kommunalverfassungen im Rouergue im 12.–14. Jh. beschäftigt. Dabei liegt der Schwerpunkt auf dem Umgang mit Schriftlichkeit.
In einer Einführung präsentiert der Editor zunächst einen Überblick über die Geschichte und Entwicklung der beiden Gemeinden. Danach geht er unter dem Titel »Archéologie des manuscrits édités« auf die Handschriften, ihre archivalische Überlieferung und seine Bemühungen um eine möglichst vollständige Rekonstruktion der Texte ein. Dazu zieht er weitere Fragmente, andere Register und spätere Kopien heran und veranschaulicht die Textgeschichte auch in Form mehrerer Grafiken. Germain ordnet sich in die Forschungstraditionen der letzten Jahrzehnte ein. Er nimmt u. a. auf Ansätze wie die seit den 1980er-Jahren entwickelte »pragmatische Schriftlichkeit« (Münster) und methodische Überlegungen der École des chartes aus den 1990er-Jahren Bezug – ebenso wie auf Studien von Pierre Chastang, der Universität Montpellier III und das von Didier Lett 2012–2019 an der École française de Rome durchgeführte Forschungsprojekt zu Statuten, Schriftlichkeit und sozialen Praktiken im westlichen Mittelmeerraum (12.–15. Jh.) (S. 35–38).
Um 1070 gab es an dem als Villanova bezeichneten Ort des späteren Villeneuve ein Kloster, das der Abtei Moissac unterstand, mit der sich der Bischof von Rodez Herrschaftsrechte teilte. Der Einfluss der Abtei in Villeneuve schien zu Beginn des 13. Jahrhunderts zu schwinden, während der Bischof und die Grafen von Toulouse miteinander rivalisierten. Wahrscheinlich erhielt Villeneuve, ebenso wie Najac, am Ende der 1230er-Jahre vom Grafen Raymond VII. von Toulouse ein consulat zugestanden, dessen Existenz spätestens für 1243 belegt ist. In diesem Jahr wurden beide consulats erstmals juristisch greifbar, da sie sich gegenüber dem französischen König dazu verpflichteten, die Bestimmungen des Vertrags von Paris einzuhalten, und die Rechtsakte mit ihren Siegeln bekräftigten. Die universitat von Najac wurde dabei durch sechs, die von Villeneuve durch vier consuls vertreten.
In beiden Städten wurden diese Amtsträger, von einigen seltenen Mandatsverlängerungen abgesehen, jährlich durch Kooptation erneuert und durch den Stadtherren bestätigt. Sie wurden durch unter den Einwohnern der einzelnen Stadtviertel ausgewählte conseillers ergänzt. 1249 gelangte die Stadtherrschaft über Najac an Alfons von Poitiers, den Bruder König Ludwigs IX., es gab Unruhen. Dennoch gewährte der neue Stadtherr 1255 eine charte de coutumes, und es kam zur Aufzeichnung des geltenden Rechts. Nach der Eingliederung Najacs in die Krondomäne (1271) wurden die Privilegien regelmäßig durch die französischen Könige bestätigt. Seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts machten sowohl Najac als auch Villeneuve besonders aktiv von ihrem Recht Gebrauch, Statuten zu erlassen. Najac verschriftlichte sie spätestens seit 1258 (mit Erweiterungen 1299 und 1331–1333, Livre des coutumes) und Villeneuve spätestens seit 1284 (Ergänzungen 1340–1350, Livre du consulat). Um 1341 hatten beide Gemeinden ungefähr 4000 Einwohner. 1326 erhob Najac zudem im Umkreis von ca. 10 km Abgaben von mehr als 1600 Haushalten in einem als honor du castel bezeichneten Gebiet.
Die beiden edierten Texte werden so präsentiert, wie sie sich zum Zeitpunkt ihrer Aufzeichnung als Sammlungen normativer Akte darstellten. Später, am Ende des 14. Jahrhunderts, auf freigelassenen Blättern nachgetragene Ergänzungen sind nicht berücksichtigt, d. h. die Edition erfolgt mit folgenden Stichjahren: 1299 für das cahier d’établissements von Najac, 1333 für sein Livre des coutumes und 1350 für das Livre du consulat von Villeneuve (S. 57). Die Edition wird durch analytische Übersichten zum Inhalt der Texte, Anhänge mit Namenslisten der consuls von Najac (1243–1349), der nur partiell erstellbaren Liste der consuls von Villeneuve (1243–1350), ein Inventar der beweglichen Güter des consulats von Najac von 1332, einige Fotos sowie um die optische Hervorhebung einiger grafischer Besonderheiten der Handschriften ergänzt.
Die sprachliche Gestalt der Texte gibt aufschlussreiche Hinweise zum Gebrauch von Latein und Okzitanisch und zur von den Stadtregierungen verwendeten juristischen Terminologie zur Selbstbezeichnung von Gemeinde und Amtsträgern und zur Charakterisierung der normativen Texte, wie z. B. la comunaltat e la universitat del castel de Najac, die Bezeichnung der normativen Texte als adordenanssas o establimens, costitucio (!), ordenansa, statuta et ordinationes etc.
In inhaltlicher Hinsicht vermitteln die überwiegend in Okzitanisch verfassten Quellen einen sehr interessanten Einblick in die Gesetzgebungstätigkeit und, soweit das auf dem Weg über normative Quellen möglich ist, in das Alltagsleben der beiden Gemeinden: städtische Wahlen, Rechenschaftslegung der consuls und städtische Finanzen, juristische Unterstützung von Einwohnern bei Prozessen, Reisekostentarife für Amtsträger und Boten bei Reisen im städtischen Auftrag; Rolle der Notare bei der Registerführung, Eide, Anwesenheitspflichten der Amtsträger; Regelungen zur Kleidung der Bürger, erlaubtem und verbotenem Schmuck, Feiern wie Hochzeiten, Kindbett und Taufen (Gästezahl, Regelungen für Eltern, Verwandte und Paten, Begrenzung von Geschenken etc.); Bestimmungen zur Ernte (Beköstigung von Erntehelfern, Schutz von Weinbergen und Gärten vor Tieren usw.), Abgabenerhebung, Almosen, Verordnungen zu Straßenreinigung, Wasserregulierung und Arbeit in den Weinbergen; Preisgestaltung; Ausübung und Qualitätskontrolle von Metzger- und Textilhandwerk, Regelungen für Weber usw. Besonders hervorhebenswert ist in diesem Zusammenhang der Erlass von detaillierten Luxusverordnungen, die an entsprechende Regelungen in Städten im mittelalterlichen Reich erinnern, aber bisher für französische Städte nur sehr selten ediert oder untersucht wurden.
Alles in allem handelt es sich bei dieser Edition um ein sehr verdienstvolles Unternehmen, das zahlreiche Fortsetzungen finden sollte. Gerade weil es sich nicht um »große«, häufig im Brennpunkt des Interesses stehende Städte und mittelalterliche Metropolen des Südens wie Toulouse, Narbonne, Montpellier, Avignon, Aix oder Marseille handelt, leistet dieses Buch einen sehr wichtigen Beitrag zur Stadtgeschichte und stellt Material für künftige komparatistische Studien bereit.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Gisela Naegle, Rezension von/compte rendu de: Lionel Germain, Les livres d’ordonnances consulaires de Najac et de Villeneuve en Rouergue. Première moitié du XIVe siècle, Toulouse (Presses universitaires du Midi) 2022, 159 p. (Le Coureur de fonds), ISBN 978-2-8107-1222-9, EUR 30,00., in: Francia-Recensio 2023/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.3.99802