Der vorliegende Band beruht auf der Ausstellung »Die Rheinlande und die ›Erfindung‹ der Katharer«, die unter der Leitung von Eugenio Riversi und Alessia Trivellone gemeinsam mit Studierenden der Universität Bonn im Jahr 2022 konzipiert und unter anderem in Bonn und Köln gezeigt wurde. Dennoch handelt es sich nicht um einen Katalog oder Begleitband zur Ausstellung, sondern um ein »kollaboratives Buchprojekt« (S. 7), bei dem Markus Krumm die redaktionelle Verantwortung trägt und weitere Autorinnen und Autoren mit Interviews oder Kurzbeiträgen beteiligt sind. Im Ergebnis handelt es sich um ein einführendes Handbuch, das einen in der Forschung der letzten 25 Jahre vollzogenen Paradigmenwechsel der europäischen Ketzergeschichte anschaulich und einem breiten Publikum verständlich machen möchte. Zum Konzept dieses Handbuchs gehören eine qualitätvolle Bebilderung und Kartierung, längere Quellenauszüge in deutscher Übersetzung und eine sparsame Verwendung bibliografischer Notizen und Anmerkungen.

Gerade Letzteres verweist darauf, dass es den Autorinnen und Autoren nicht um einen weiteren wissenschaftlichen Beitrag zu der seit den 1990er-Jahren durch Robert Moore, Monique Zerner und Jean-Louis Biget aufgeworfenen und seither heiß diskutierten Neubewertung der »katharischen« Häresie im westeuropäischen Mittelalter geht1. Die Urheberinnen und Urheber, Vertreterinnen und Vertreter dieses wissenschaftlichen Paradigmenwechsels pochen vor allem auf eine angemessene Lektüre und Kontextualisierung des äußerst heterogenen Quellenkorpus. Sie konstatieren mit unbestreitbaren Argumenten, dass die Vorstellung einer großen Ketzerbewegung, die vor allem in Okzitanien im 12. und 13. Jahrhundert unter dem Namen »Katharer« oder »Albigenser« weit verbreitet gewesen sei und kirchenähnliche Strukturen aufgebaut habe, eine »Erfindung« mittelalterlicher Kirchenleute war, die durch moderne Theologen und Historiker seit dem 18. Jahrhundert zu einem lange Zeit unangefochtenen historiografischen Narrativ geformt wurde.

Der hier zu besprechende Band macht sein doppeltes Anliegen schon im Aufbau deutlich: Zum einen werden einige Stationen der historiografischen Konstruktion der »katharischen« Meistererzählung und ihrer modernen Dekonstruktion behandelt. Diese Perspektive wird leitend in der Einleitung, in Kapitel 1 (»Forschungskonstrukt und Erinnerungsort. Die Katharer in der Moderne«) und im abschließenden Kapitel 8 (»Katharer und Katharismus. Perspektiven der jüngeren Forschung«) eingenommen. Zum anderen werden die Hauptthemen der älteren Forschung unter der neueren Prämisse der Konstruktionsthese durchgespielt. Somit gibt es chronologisch geordnete Kapitel zu den spätantiken Häresien, den Verhältnissen im Rheinland, Eckbert von Schönau, den norditalienischen polemischen Texten, dem »Albigenserkreuzzug« und zur päpstlichen Inquisition.

Dabei werden zweifellos wichtige neuere Erkenntnisse verständlich vermittelt, so etwa die literarische Abhängigkeit des rheinischen Benediktiners Eckbert von Schönau, der in seinem Traktat »Liber contra hereses katarorum« um 1163 erstmals die Ketzerei der Katharer beim Namen nennt, von spätantiken Quellen. Uwe Brunn hat bereits in seiner Dissertation 2006 nachgewiesen, dass Eckbert verschiedene Stellen bei Augustinus zu spätantiken Häresien, darunter die novatianischen Katharer und die dualistischen Manichäer, für seine Schrift verwendete2. Beide Gruppierungen haben durch die Etymologien Isidors von Sevilla weitere Verbreitung bei mittelalterlichen Gelehrten gefunden (S. 54f.). Etwas weniger überzeugend gestaltet sich der Versuch von Alessia Trivellone, auf weniger als zwei Seiten die päpstlichen und kirchlichen Quellen, die den Katharerbegriff als einen von divergierenden zeitgenössischen Bezeichnungen aufnehmen, beiseitezuwischen (S. 65f.).

Auch in den folgenden Kapiteln wechseln sich handbuchartige Einführungen zu Texten, Bildern und Autoren mit gelegentlichen Kurzschlüssen ab, die dem Leser vermitteln sollen, dass weitgehend alle Äußerungen zu Häresien im europäischen Hochmittelalter kirchlich oder politisch instrumentalisiert wurden. Dass etwa das berühmte Mailänder Fresko aus den 1170er-Jahren, das den Heiligen Ambrosius bei der Vertreibung der Arianer aus der Stadt zeigt, mit den wenige Jahrzehnte später entstehenden antihäretischen Traktaten in der Lombardei in Zusammenhang stehen soll, wie es ein entsprechender Abschnitt in Kapitel 5 unterstellt (S. 125f.), ist kaum plausibel zu begründen.

In ähnlicher Weise werden die höchst beziehungsreichen Fresken des Andrea de Bonaiuto in der Spanischen Kapelle des florentinischen Dominikanerkonvents Santa Maria Novella aus den 1360er Jahren in die Linie der mittelalterlichen Konstruktionen von Häresien gestellt, ohne die spezifischen lokalen Verhältnisse in Florenz im 14. Jahrhundert oder die schwierige Selbstverortung des Dominikanerordens in der Frage der Ketzerverfolgung überhaupt nur zu erwähnen3. An solchen Stellen stößt die Gratwanderung zwischen einem komplexen Thema einerseits, das durch die Forschungsgeschichte der letzten 200 Jahre zusätzlich aufgeladen erscheint, und dem berechtigten Anspruch einer allgemeinverständlichen und notwendig vereinfachenden Darstellung andererseits an ihre Grenzen.

Eine der Aporien des besprochenen Paradigmenwechsels besteht darin, dass für die mittelalterlichen heterodoxen Individuen und Gruppen bislang kein neuer Begriff gefunden wurde. Der Vorschlag von Julien Théry, der nach einer der seltenen überlieferten Selbstbezeichnungen von der »hérésie des bons hommes« sprechen möchte4, hat sich nicht durchgesetzt. Die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes sprechen mithin weiterhin von Katharern und setzen dies nur gelegentlich in Anführungsstriche, während in anderen Fällen darauf verzichtet wird. Gleichwohl kann der sorgfältig redigierte Band zur Lektüre durchaus empfohlen werden. Er kann den Widersprüchen, die sich zum einen aus dem Thema selbst ergeben, da bereits das Reden über »Ketzer« immer eine Konstruktion ihrer (kirchlichen) Gegner ist, und zum anderen aus dem Versuch, zwischen wissenschaftlicher Differenzierung und ansprechender Darstellung eine Balance zu finden, nicht vollständig entkommen. Aber er macht durch den knapp gehaltenen kritischen Apparat zumindest deutlich, wo die notwendigen Differenzierungen nachzulesen sind.

1 Einen Anfang setzte die Publikation des Tagungsbandes: Monique Zerner (dir.), Inventer l’hérésie? Discours polémiques et pouvoirs avant l’Inquisition, Nice 1998. Seither widmen sich zahlreiche Sammelbände, Artikel und Monografien dieser Forschungsdiskussion. Zum neueren Stand vgl. den Band: Jean-Louis Biget et al. (dir.), Le »catharisme« en questions, Toulouse 2020 (Cahiers de Fanjeaux, 55).
2 Uwe Brunn, Des contestataires aux »cathares«. Discours de réforme et propagande antihérétique dans les pays du Rhin et de la Meuse avant l’Inquisition, Paris 2006 (Collection des études augustiniennes, 41).
3 Vgl. Jörg Oberste, Omnibus fuit ipse dilectus. Das Bild des heiligen Dominikus und das Ketzerproblem in der frühen Geschichte des Dominikanerordens, in: Archivum Fratrum Praedicatorum. Nova Series 2 (2017), S. 169–189.
4 Julien Théry, L’hérésie des bons hommes. Comment nommer la dissidence religieuse non vaudoise ni béguine en Languedoc (XIIe–début du XIVe siècle.), in: Heresis 36/37 (2002), S. 75–117.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Jörg Oberste, Rezension von/compte rendu de: Markus Krumm, Die Erfindung der Katharer. Konstruktion einer Häresie in Mittelalter und Moderne, Regensburg (Schnell & Steiner) 2023, 160 S., ISBN 978-3-7954-3797-8, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2023/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.3.99810