Der vorliegende Sammelband reiht sich in die Folge derjenigen Bände ein, die die Beiträge der 2015 in Rom veranstalteten Jubiläumstagung »Concilium Lateranense IV: Commemorating the Octocentenary of the Fourth Lateran Council in 1215« vereinigen1. Er widmet sich einem Themen-Bereich des Konzils, der noch keine eingehende monografische Würdigung erfahren hat. Standen bisher vor allem Aspekte des Kirchenrechts und der Diffusion der rechtlichen Weichenstellungen von 1215 in den europäischen Raum und ihre Folgen im Vordergrund des Forschungsinteresses2, versucht dieser Beitrag, der die gleichnamige Sektion besagter Tagung abbildet, den Bogen zu einem der wesentlichen Kernaufgaben des Papstes und des Klerus zu schlagen: Theologie und Seelsorge.
Diese zwei Themenfelder geben zugleich die Zwei-Gliederung des Bandes vor. Einleitend verweisen die Herausgeberinnen auf die kaum vorhandene Forschung zur Entwicklung der scholastischen Theologie im Zusammenhang mit dem Vierten Lateranum. Gleiches gelte für die Rolle in diesem Kontext herausragender Persönlichkeiten wie Petrus Lombardus (S. 10f.). Die Abbildung des Forschungsstandes im Rahmen der Einleitung (S. 11–20) spannt eine Klammer um die Einzelbeiträge und verleiht dem Ganzen einen stärker monografischen Charakter, wobei die Grundstruktur des Tagungsbandes erhalten bleibt. Eine Vorstellung und kurze Zusammenfassung der einzelnen Beiträge (S. 14–19) liefert eine konkrete Einordnung des gesamten Themenkomplexes in den Forschungskontext und arbeitet zugleich den Stellenwert der einzelnen Beträge überzeugend heraus. Als eine der übergeordneten Fragen stellen Claire Monagle und Neslihan Şenocak heraus: »[...] what was, in fact, the pastoral vision of Innocent III, the pope who headed Lateran IV« (S. 18). Es sei aber fraglich, ob sich Theologie und cura animarum in der Forschung überhaupt trennen lassen (S. 19).
Clare Monagle beginnt mit einem Blick aus einer rezeptionsgeschichtlichen Perspektive und geht unter anderem der Frage nach, inwieweit Aspekte der Moderne in Lat IV antizipiert werden (S. 24). Sie spricht sich für die Interpretation des Konzils als »Wasserscheide« aus, »[...] an epochal shift from which there could be no return« (S. 24). Vor dem Hintergrund von Foucaults Auffassung der Ereignisse reflektiert sie die Bedeutung der neu aufkommenden (Möglichkeit zur) Verfolgung von Abweichlern durch die Definition einer Norm und der Rolle der Seelsorger dabei. Vordergründig ist sie bemüht, im Rahmen einer Metaanalyse Narrative in der Historiografie aufzudecken (vgl. S. 27: »[...] to understand Lateran IV as both historical event and temporal talisman«). Insbesondere die eingehendere Untersuchung der Sprache von Lat IV (vgl. S. 28 und 33) zeigt großes Potential, dem in quellendetaillierter Forschung weiter nachgegangen werden sollte.
Marcia L. Colish widmet sich mit Steven Langton und Joachim von Fiore zwei wichtigen Exponenten der Frühscholastik am Beispiel ihrer differierenden Trinitätsvorstellungen. Steven Langton steht dabei mit seinem Kommentar zu Petrus᾽ Lombardus »Sententiae« im Mittelpunkt. Der zentrale Neuansatz ist hier, diesen Kommentar mit can. 2 des Konzils in Verbindung zu bringen, der die Scholastik um 1200 und nicht die um 1150 oder 1250 repräsentiere (S. 40). Damit ist ein auch methodisch wichtiger und anregender Aspekt herausgearbeitet, zumal Petrus Lombardus während des Konzils explizit als Autorität genannt wird (vgl. S. 41).
Juanita Feros Ruys unterzieht can. 2 einer Prüfung hinsichtlich einer Neupositionierung des Teufels unter den Dämonen, ausgehend von der Änderung des traditionelles eius in alii (S. 71; diabolus et demones alii, zit. S. 72). Diese Phrase finde sich außerhalb von Lat IV nur bei Alanus ab Insulis, woher dies wahrscheinlich direkt entlehnt sei (S. 74f.). Der diesbezügliche Hinweis auf die Glossen beweist dies allerdings nicht zwingend, da damit zunächst nur gezeigt ist, dass die Glossatoren diesen Konnex hergestellt/erkannt (?) haben. Eine breite Rezeption dieses neuen Konzeptes von »dämonischer Hierarchie«, hier am Beispiel Wilhelms von Auvergne (S. 80–83), zeigt hingegen deutlich die Relevanz und Problematik desselben in der folgenden Zeit.
Zu Beginn des zweiten Teils untersucht Neslihan Şenocak den Konnex von »Pastor« und »Lehrer« mit einem kurzen Abriss zur Geschichte der Seelsorge seit der Spätantike, deren monografische Behandlung als Desiderat benannt wird (S. 91–96). Ausgangspunkt bildet die biblische Metapher der »Schafherde« (S. 91–93). Im Vordergrund steht hier insbesondere das sich wandelnde Bild der Aufgaben eines Bischofs gegenüber der Gemeinde. Über den Diskurs um den »Pastor Bonus« seit dem 12. Jahrhundert, der besonderen Wert auf dessen Rolle als Lehrer legt, gelangt die Autorin zur Gattung der Predigten, die dieses Motiv gern aufgreifen. Zudem wird der in den Kathedralen von Chartres, Amiens, Reims und Bourges greifbare ikonografische Niederschlag mit Christus als Lehrer – in der Plastik offenbar ein global einzigartiges Bildprogramm – mit dem nordfranzösischen, zeitgenössischen theologischen Diskurs in Verbindung gebracht (S. 99f.). Schließlich wird die Rolle der Mönche für die Verbreitung eines »new understanding of saving souls« (S. 107) ausgehend von Lat IV erläutert.
Dem bisher noch wenig beachteten Charakter von Predigten als Vermittlungsmedium der Ideen des Petrus Cantor und Innocenz᾽ III. widmet sich der Beitrag von Jessalyn L. Bird, wobei sie insbesondere Predigten, die kurz vor und kurz nach dem Konzil gehalten wurden, auf ihre Programmatik hin untersucht (S. 114). Grundlage bilden im Wesentlichen Handschriften aus Saint-Victor, konkret Paris, BnF, MS lat. 14470, MS lat. 14859 und MS nouv. acq. lat. 999. Dabei streicht sie den Charakter der Predigten als »Massenmedium« zur Verbreitung der Reform-Ideen des Konzils (S. 114) sowie die Motivik der Kreuzzugspredigten und das Echo der Kritik am Fehlverhalten von Klerikern (S. 125–127) heraus. Die Verbreitung der Inhalte des Konzils durch Predigten kann sie besonders im Kontext von Provinzialsynoden nachweisen (S. 135).
Anhand der allgemein verpflichtenden, jährlichen Beichte bei einem sacerdos proprius (vgl. can. 21 Lat IV) als wichtigem Kontrollinstrument der Gläubigen gelingt Pier V. A. Braida ein konziser Überblick über die Entscheidungen des Konzils betreffend strikte Anordnungen für die Parochien, die Interpretation derselben in der Kanonistik und deren Umsetzung in der Praxis.
Tommaso di Carpegna Falconieri untersucht den Einfluss von Lat IV auf die Geschichte der Stadt Rom. Dabei trifft er als wesentliche Unterscheidung die zwischen päpstlichem und stadt-römischem Klerus (S. 163). Besonders zu letzterem, der sich etwa durch einen eigenen Bestattungs-Ordo auszeichne (S. 164), fehlen bisher breitere Studien (vgl. S. 175). Unter anderem über den Einfluss der Stationsliturgie als Konnex von Konzil und der Stadt Rom gelangt der Autor zu dem Ergebnis, dass die Rolle der Stadt und des stadtrömischen Klerus bei Durchführung des Konzils als bedeutend einzustufen sei (S. 175).
Mit einer Analyse der großformatigen liturgischen Handschrift Amiens, BM, MS 115 mit Schwerpunkt auf der Innocenz III.-Predigt »Deus qui nobis« (S. 185–199) beschließt Anne E. Lester den Band. Ziel ist es, diese Predigt in den größeren Zusammenhang von Innocenz᾽ Reformagenda einzubetten und zugleich Hinweisen zur Performanz der Predigt in der liturgischen Handlung nachzugehen (S. 186f.). Die bisher von der Forschung eher isoliert untersuchten liturgischen und para-liturgischen Texte werden hier überblicksartig in einer Gesamtschau geboten (S. 192). Das inklusive Moment der Predigt in Bezug auf die Stadt Rom exemplifiziert die Autorin am Kult der hl. Veronika unter Innocenz III. (S. 188–191) und stellt den Anteil gregorianischer Gesänge an der Reform der Liturgie heraus (S. 192). Innocenz und seine Nachfolger hätten es verstanden, durch eine Verbindung von Objekten und Texten speziell auch die Laien mit ihren Botschaften zu erreichen (S. 195).
Der Band stellt insgesamt einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des Vierten Lateranum dar3. Er spannt einen Bogen über die Mediävistik hinaus und bietet viele neue und anregende Aspekte, die mit dem Konnex von Theologie, Organisation der Pfarrseelsorge in Europa und dem Einfluss von römischen Reformen und Vorstellungen (Zentrum) und ihrem Wirken in der christlichen Welt (Peripherie) ein weites Tor für zukünftige Forschung aufschließen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Aaron Schwarz, Rezension von/compte rendu de: Clare Mongale, Neslihan Şenocak (ed.), Lateran IV. Theology and Care of Souls, Turnhout (Brepols) 2023, 219 p., 3 fig. (Disputatio, 34), ISBN 978-2-503-59680-8, EUR 75,00., in: Francia-Recensio 2023/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.3.99814