Das vorliegende Werk ist eine erfrischende, informative und trotz seiner Dichte von 517 Seiten gut lesbare und zugängliche Lektüre für ein am Mittelalter interessiertes Publikum. In neun voneinander unabhängigen Kapiteln werden Einblicke in die Ereignis- und Kulturgeschichte des größtenteils britischen Früh- und Hochmittelalters gegeben. Biografien von bekannten Frauen liefern den Ausgangspunkt, von denen ausgehend die Themen tiefer in die dynastischen, sozialen und politischen Einbindungen der Person sowie in den kulturellen oder religiösen Kontexten der gegebenen Zeit eintauchen. Die Leserinnen und Leser lernen somit die Mercia-Königinnen Cynethryth oder Æthelflæd kennen, aber auch Äbtissinnen wie Hilda von Whitby oder Hildegard von Bingen, ebenso Mystikerinnen wie Margery Kempe und Juliane von Norwich sowie namentlich anonyme Frauen, deren Existenz nur über archäologische Funde belegt ist, wie die Loftus-Prinzessin oder Wikinger-Anführerinnen. Allesamt sind es meist eher mächtige Frauen, die ihre Spuren in der Geschichte gelassen haben und deren Leben und Kontext in diesem Buch im Mittelpunkt stehen.
Jedes dieser Kapitel wird eingeleitet durch eine Aktualisierung der Forschung und einen Blick hinter die Kulissen, um zu schauen, wie »Geschichte gemacht wird«: so die Bedeutung mittelalterlicher Frauenfiguren für die englische Wahl- und Frauenrechtsbewegung der Suffragetten Anfang des 20. Jahrhunderts oder die Mitwirkung der Mediävistin und MGH-Mitarbeiterin Margarethe Kühn bei der »Bergung« (oder Diebstahl?) des sog. »Riesencodex« der Schriften Hildegards von Bingen nach dem Zweiten Weltkrieg. Ebenso werden die Möglichkeiten neuer DNA-Analysen für die Erforschung archäologischer Gräberfelder und der Identifizierung weiblicher Skelette, die vorher aufgrund des Reichtums und Typus von Grabbeigaben als »männlich« identifiziert worden waren, beschrieben. Insofern lesen sich alle voneinander unabhängigen Kapitel sowohl als eine Geschichtsdarstellung zu einmaligen Frauenleben in ihren mittelalterlichen Gesellschaften wie auch als Einführung in neue Forschungsrichtungen und -paradigmen, die die üblichen (meist männlich geprägten) historischen Narrative formen und unser Wissen über das Mittelalter verändern können.
Dass der Untertitel »Eine neue Geschichte des Mittelalters aus Sicht der Frauen« direkt auf der ersten Seite der Einleitung den Zusatz benötigt, es »verwende[t] dieselben Fakten, Gestalten, Ereignisse und Belege […]« (S. 11), deutet schon darauf hin, welche misogynen Vorstellungen der Vormoderne im allgemeinen Halbwissen vorherrschen und dass die Autorin Janina Ramirez dagegen ihre ganze Expertise als promovierte Mediävistin und Oxford-Dozentin in die Waagschale werfen muss. Der Zusatz zum bereits zitierten Satz, die altbekannten Informationen werden »kombiniert mit neuen Ereignissen und Entdeckungen« (S. 11), unterstreicht bereits, dass es sich nicht um eine Weiterführung »großer Frauen in der Geschichte« als Gegengewicht zu den enzyklopädischen hagiografischen männlichen Heldenbiografien, wie sie vor allem nach den 1980er-Jahren z. B. durch Pionierinnen der Frauengeschichte wie der Historikerin Régine Pernoud betrieben wurde, handeln werde. Zwar nimmt auch Janina Ramirez vor allem Biografien von Königinnen oder anderen mächtigen Frauen des Mittelalters zum Ausgangspunkt: die Fakten, Gestalten, Ereignisse und Belege. Von dort ausgehend, schafft sie es aber meist überzeugend (die Kapitel zu Edith und zu den Katharerinnen ausgenommen), den Bogen über die gesellschaftlichen und politischen Hintergründe zu spannen. Dass explizit aktuelle Forschungsmethoden wie archäologische Grabungen oder Kontroversen zum »Konstruktionscharakter« der Katharer sowie neue Quellenlektüren vom queeren Mittelalter miteinbezogen werden, macht nochmals den Aktualitätsbezug des Buches und die Leistung der Autorin, aktuelle Tendenzen in der Mediävistik sichtbar zu machen und zu vermitteln, deutlich.
Dieses Buch ist für ein breites, interessiertes Publikum verfasst; vermutlich vor allem für ein englischsprachiges. Gerade in der Übersetzung und außerhalb Englands gelesen, fallen insofern ein paar Schwerpunkte besonders auf: zwei Drittel des Buches (außer Hildegard von Bingen, den Katharerinnen, den Wikingerinnen oder Jadwiga von Polen) konzentrieren sich nicht nur auf die britische Geschichte, sondern auch vor allem auf das Früh- und Hochmittelalter.
Auf der einen Seite ist es erfrischend, britische Geschichte des Mittelalters jenseits von Tudor-Ehefrauen und Jeanne d’Arc kennenzulernen. Auf der anderen Seite steht diese Replikation einer populären als »golden« identifizierten Epoche des britischen Mittelalters (das ebenfalls Teile Skandinaviens, die Zeit der Wikinger und der Normannen für sich beansprucht) in einem unaufgelösten Widerspruch zu einem anderen Topos, gegen den die Autorin anschreiben will: der der nationalistischen »Meistererzählung« eines Epos, das sie immer wieder in Bezug auf die britischen Geschichtsschreibung und Heldenrezeption des 19. und 20. Jh. erkennt – und der auch heute in einem nationalistischen Geschichtsrevisionismus (und sicher nicht nur im Vereinigten Königreich) durchaus vorkommt.
Dabei stellt sich, insbesondere als lesende Person aus einem nichtbritischen Kontext, die Frage, inwiefern eine derartige Themenauswahl nicht eben genau diesen angeprangerten Revisionismus wiederholt – bloß eben aus einer weiblich erzählten Geschichte? Wäre es nicht effektiver gewesen, die Britischen Inseln aus ihrer erzählerischen Isolation herauszuholen und stattdessen die europäischen Verflechtungen und Bewegungen hervorzuheben oder zumindest auf Parallelen zu anderen Frauenfiguren in anderen geografischen Regionen zu verweisen? Gewiss: ein Buch kann nicht alles erzählen. Und: die thematischen Schwerpunkte gehen eindeutig aus der Forschungsexpertise von Janina Ramirez für das früh- und hochmittelalterliche England hervor. Doch: wäre es dann nicht fairer, dies zumindest im Untertitel anzukündigen, statt das ganze (europäische?) Mittelalter zu vermarkten?
Die in den vorherigen Zeilen formulierte Kritik am gewählten Forschungsdesign schmälert jedoch keineswegs die Freude an der Lektüre und an der Notwendigkeit, über solche zugänglichen Studien Frauen sowohl als historische Personen als auch als forschende Wissenschaftlerinnen aus der Vergessenheit oder Invisibilisierung zu holen und als Anstoß für neue Narrative zu nutzen.
Das Werk von Janina Ramirez über das Mittelalter mit einem dezidiert weiblichen Fokus ist allen Geschichtsinteressierten zu empfehlen, die eine gut lesbare, interessante und erhellende Lektüre suchen, die mit einigen Mittelalterklischees über Frauenleben aufräumt. Durch die geschickte Konstruktion der einzelnen Kapitel werden der Prozess von mediävistischer Arbeit wie auch die Beteiligung und Neubewertung von Wissenschaftlerinnen in der Geschichtswissenschaft in den Vordergrund gestellt.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Vanina Kopp, Rezension von/compte rendu de: Janina Ramirez, Femina. Eine neue Geschichte des Mittelalters aus Sicht der Frauen, Berlin, Weimar (Aufbau Verlag) 2023, 522 S., ISBN 978-3-351-04181-6, EUR 28,00., in: Francia-Recensio 2023/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.3.99815