Die Öffnung des Archivs der Apostolischen Pönitentiarie im Jahr 1983 rückte eine kuriale Behörde in das Interesse der internationalen Forschung, über deren Archivbestände bis dahin kaum etwas bekannt war und über die selbst Emil Göller für sein ausführliches Werk zur Geschichte der Pönitentiarie (erschienen 1907 und 1911) nur grobe Informationen einzuholen vermochte, ohne sich ein eigenes Bild machen zu können. Erst seit diesem Zeitpunkt und damit knapp 100 Jahre nach der Öffnung des Vatikanischen Archivs im Jahr 1888 widmen sich nun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (in erster Linie der Mediävistik) dieser reichen und inhaltlich einzigartigen Überlieferung, die sich in den Registerbänden der Pönitentiarie befindet. Für den deutschsprachigen Raum wurden diese Registerbände von Ludwig Schmugge ausgewertet und im »Repertorium Poenitentiariae Germanicum« veröffentlicht (»RPG«; erschienen 1998–2018). Die elf vorliegenden Bände, die sich über die Jahre 1431 bis 1523 erstrecken, bieten – das liegt in der Funktion der Pönitentiarie als höchstes Buß- und Gnadenamt der mittelalterlichen ecclesia romana begründet – Einblicke in Lebenssituationen und menschliche Schicksale, die in dieser ungeschminkten, von den Betroffenen selbst zum Ausdruck gebrachten Form von keiner anderen Institution verschriftlicht wurden. Dies belegen die Studien von Ludwig Schmugge, von Arnold Esch, der die Register auch über den oben genannten Raum hinaus ausgewertet hat, oder von Kirsi Salonen und Enno Bünz, um hier nur wenige Beispiele zu nennen.

Die in partibus erhaltenen Litterae der Pönitentiarie fanden hingegen, bis auf Ausnahmen, wie beispielsweise die Beiträge von Herwig Weigl, bisher kein vergleichbares Interesse, ganz zu schweigen von ihrer systematischen Erschließung, obwohl sie seitens der landesherrlichen und später staatlichen Archivverwaltungen im Zuge ihrer Öffnung für die Wissenschaft seit Langem zugänglich sind. Hier setzt die vorliegende Arbeit von Philipp Thomas Wollmann ein, der die in der Empfängerüberlieferung erhaltenen Urkunden der Pönitentiarie einer gründlichen Untersuchung unterzieht. Notwendigerweise werden dafür Eingrenzungen vorgenommen. Zeitlich liegt der Fokus auf dem 15. Jahrhundert, was als pragmatische Entscheidung plausibel erscheint. Die geografische Eingrenzung umfasst das heutige Süddeutschland und Österreich und wurde »vornehmlich nach Archivbeständen« vorgenommen und »weniger nach Diözesen oder historischen Landschaften« (S. 4f.). Dieses eher überraschende Auswahlkriterium liegt darin begründet, dass Wollmann aufgrund des Lockdowns im Jahr 2020 bei seinen Archivrecherchen »nahezu ausschließlich« (S. 4) auf digitalisierte Bestände ausweichen musste, vor allem auf die Datenbanken der Bayerischen Staatsarchive und des Verbundprojektes monasterium.net. Dieser der Situation angepasste und pragmatische Zugriff verdient Beachtung; gleichzeitig schwingt dabei auch die Frage mit, inwieweit eine auf Archivbestände konzentrierte, die historischen Grundwissenschaften behandelnde Untersuchung auf Digitalisaten basieren kann.

In seiner Arbeit setzt Wollmann verschiedene Schwerpunkte. Das auf die Einleitung folgende Kapitel stellt die Pönitentiarie in ihrer Organisation und ihren Zuständigkeiten vor (S. 13–29). Ein Fokus liegt dabei auf der Rolle der Großpönitentiare, allesamt im Kardinalsrang und keine Unbekannten, von denen aber im Untersuchungszeitraum keiner das Papstamt erlangen konnte – ein Sprungbrett für diesen Karriereschritt scheint das Amt des Großpönitentiars nicht gewesen zu sein. Auch das weitere Personal wird vorgestellt, zunächst das Schreiberkollegium, das seit Clemens VI. aus 24 Mitgliedern bestand. Zu den Dignitäten dieses Kollegiums zählten u. a. die Korrektoren, die Assistenten und die Distributoren (S. 30–35). Außerhalb des Schreiberkollegiums sind die Sigillatoren, Registratoren und Prokuratoren zu nennen, deren Aufgaben erläutert werden.

Das vierte Kapitel (S. 40–103) ist der diplomatischen Beschreibung der Litterae gewidmet. Darin untersucht Wollmann in mehreren Unterkapiteln Form und Inhalt der Urkunden. Mit Blick auf die formalen Aspekte werden zahlreiche Details angesprochen und wichtige Beobachtungen festgehalten, so beispielsweise die Tatsache, dass das Schriftbild der Ausfertigungen aus der Konstanzer Konzilszeit sich deutlich von späteren Exemplaren unterscheidet, was als Indiz dafür gewertet wird, dass auf lokale Schreiber zurückgegriffen wurde (S. 42), oder der Nachweis einer humanistischen Elongata in einer Urkunde aus dem Jahr 1438 (S. 43). Hervorzuheben ist ferner der Abschnitt zur Besiegelung (S. 43–47). Hier bietet Wollmann eine gute Orientierung für die Unterscheidung zwischen der Besiegelung mit dem Amtssiegel des officium maius bzw. dem des officium minus, weiterhin zwischen dem persönlichen Siegel des jeweiligen Großpönitentiars bzw. denen der Minderpönitentiare. Ebenfalls wichtig sind die Ausführungen zu den Kanzleivermerken, durch die sich der Geschäftsgang der Pönitentiarie in der Praxis nachvollziehen lässt (S. 47–51).

Wichtig sind die Ausführungen zu den verschiedenen angewandten Formularen, womit man bei den Zuständigkeiten der Pönitentiarie und den Inhalten der Litterae angelangt ist. Mit rund einem Drittel stellen Beichtprivilegien die umfangreichste Gruppe der überlieferten Litterae dar. Darauf folgen Absolutionen, Dispense, hier vor allem von den Vorschriften des Fastens, der ehelichen Geburt, des Mindestalters und der für einen Pfründeninhaber vorgeschriebenen physischen Verfassung. Erstaunlicherweise sind die Ehedispense mit nur drei Stücken der untersuchten Litterae im Vergleich mit ihrer Anzahl in den kurialen Registern überschaubar. Zu nennen sind darüber hinaus jene erbetenen Gunsterweise und Bestätigungen, die unter de diversis formis fallen. Diese betreffen vor allem Privilegien für Tragaltäre, Pilgerreisen und unterschiedliche Sondervollmachten bei der Seelsorge und den Weihen.

Hervorzuheben sind ferner die Beobachtungen zum Vergleich der Anzahl der Litterae in den kurialen Registerserien der Pönitentiarie in Rom mit derjenigen der Litterae in der Empfängerüberlieferung. Hier lassen sich für den Untersuchungszeitraum, für den zumindest von 1458 bis 1500 beide Überlieferungsstränge erhalten sind, von 54 überlieferten Litterae 27 anhand des »RPG« nachweisen. Somit sind in der Region doppelt so viele Urkunden der Pönitentiarie überliefert wie in den kurialen Registern. Dieses Ergebnis steht in deutlichem Gegensatz zum Überlieferungsverhältnis der päpstlichen Kanzlei, von deren expedierten Urkunden sich heute nur noch ein Bruchteil in partibus nachweisen lässt. Mit Blick auf die Pönitentiarie bietet somit offenbar die lokale Überlieferung den größeren Aussagewert, was von der Wissenschaft als ein Anstoß für weitere Forschungen aufgegriffen werden kann, die bestenfalls zu einem international angelegten »Repertorium documentorum Poenitentiariae« (Ludwig Schmugge) zusammengeführt werden sollten.

Wie dies umgesetzt werden könnte, zeigt sich im umfassenden Editionsteil der vorliegenden Arbeit, der mustergültig ist (S. 119–295). Jede der 140 Litterae wird mit einem ausführlichen Kopfregest, einer Beschreibung mit Berücksichtigung sämtlicher Kanzlei- und Rückvermerke sowie der Editionsorte versehen. Daran schließt sich die jeweilige Volledition an. Damit hat Wollmann Grundlagenarbeit geleistet, da ein Großteil dieser Urkunden hier erstmals ediert vorliegt! Können diese Urkunden aus Platzgründen im Einzelnen nicht gewürdigt werden, so sei der Erkenntnisgewinn des Editionsteils exemplarisch anhand der Nr. 2 (1411 September 28) dargestellt, da hier die beiden Großpönitentiare der einstigen römischen und avignonesischen Obödienz, die nun der Pisaner Obödienz unterstanden, gemeinsam urkundeten, eine Einigung, die auf dem Konzil von Pisa getroffen wurde. Dies schlägt sich in der Formulierung Antonius […] episcopus Portuensis […] auctoritate domini pape, cuius penitentiarie unacum […] Petro […] episcopo Tusculano curam gerimus nieder.

Wollmann hat mit seiner Untersuchung, deren Aufbau und Ergebnisse beachtlich sind und in der auch die lokalen und kurialen Überlieferungsstränge gemeinsam betrachtet werden, über die oben vorgestellten Einzelergebnisse hinaus ein Fundament gelegt, auf dem sowohl künftige Arbeiten zur Pönitentiarie als auch die landes- und kuriengeschichtliche Forschung dankbar aufbauen können; dazu dient auch das Register der Pönitentiariemitarbeiter (S. 305–308). Darüber hinaus wird es nun für Archivarinnen und Archivare möglich sein, die in den jeweiligen Archiven überlieferten Schriftzeugnisse, auch wenn ihre Zahl vielleicht überschaubar sein mag, sicherer einzuordnen und auszuwerten. Denn trotz der Fortschritte bei der Digitalisierung der Archivbestände bleibt die Notwendigkeit bestehen, die Provenienz der vorhandenen Dokumente klären und bei ihrer Verzeichnung auch wiedergeben zu können. Ein Orts- und Personenregister sowie mehrere Abbildungen runden diese exzellente Studie ab.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Jörg Voigt, Rezension von/compte rendu de: Philipp Thomas Wollmann, Litterae der Apostolischen Pönitentiarie in partibus (1400–1500). Ein Beitrag zur kurialen Diplomatik, Wiesbaden (Harrassowitz Verlag) 2021, XXXVI–323 S. (Monumenta Germaniae Historica. Studien und Texte, 68), ISBN 978-3-447-11732-6, EUR 65,00., in: Francia-Recensio 2023/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.3.99850