Soll die Aufklärungsforschung Aufklärung als ein Phänomen auffassen, das durch überwiegend ähnliche Muster bestimmt ist und daher im Singular von Aufklärung reden? Oder sind die Erscheinungsformen der Aufklärung so vielfältig, dass man von Aufklärungen im Plural reden sollte? Und falls letzteres der Fall ist: handelt es sich dann um nationale, kulturspezifische Unterscheide oder geht es um Unterschiede in der vertretenen Programmatik (radikale vs. moderate Aufklärung)? Soll man Aufklärung als gemeinsam geteiltes Programm einer sozialen Bewegung ansehen, oder aber als geteilte Sprache von Aufklärern, oder als spezifische Erzählung über den Fortschritt der Menschheit aufgrund der Errungenschaften der Wissenschaften und Künste? Interpretiert man Aufklärung anhand der zeitspezifischen Kontexte des 18. Jahrhunderts oder fokussiert man besser auf deren vermeintliche Folgewirkungen für die eigene Gegenwart?
All diese Fragen stehen in der gegenwärtigen Aufklärungsforschung zur Diskussion, werden im vorliegenden Sammelband aber leider nicht systematisch aufgegriffen, beispielweise in einer programmatischen Einleitung. Stattdessen entscheiden sich die Herausgeber, ohne weiter auf die dementsprechenden Debatten in der Forschung einzugehen, von Aufklärungen im Plural zu sprechen, deren Vielfalt zu betonen und unter diesem Begriff insgesamt 30 Beiträge mit völlig unterschiedlichen Zugängen und Themen zu versammeln. Auch die Binnengliederung des Bandes – zum Epochenbegriff, zu Bildungs- und Erziehungskonzeptionen, zu Religionsvorstellungen, zu Medien und zum Postkolonialismus – trägt wenig zur Orientierung bei. So versammelt beispielsweise die Rubrik zu Bildung und Erziehung Beiträge zu Debatten über Schulpädagogik bis zur Praxis des Geiselstellens im russischen Kolonialismus des 18. Jahrhunderts. Da die Herausgeber des Bandes ein Gesamtergebnis offenbar nicht vorzulegen beabsichtigten, ist es schwer, den Band angesichts der disparaten Vielfalt der Beiträge insgesamt kritisch zu würdigen. Stattdessen sollen drei Einzelaspekte, die in manchen der Beiträge zur Sprache kommen und für gegenwärtige Debatten in der Aufklärungsforschung bedeutsam sein könnten, in dieser Rezension aufgegriffen werden.
In zahlreichen Beiträgen wird untersucht, wie Aufklärung als Begriff sowie als Kommunikationspraxis eng verbunden ist mit sozialen Positions- und Geltungskämpfen im öffentlichen Raum. Dabei wird auch erkennbar, dass sich nicht nur diejenigen auf »Aufklärung« bzw. auf »wahre Aufklärung« berufen, die wir in unserer eigenen Analyse als Aufklärer klassifizieren würden (z. B. in den Beiträgen von Fulda und Kallabis). Eine Untersuchung des Bedeutungsraums des Begriffes macht bereits die damit einhergehenden Positions- und Geltungskämpfe transparent und dokumentiert, dass der Begriff Aufklärung selbst im 18. Jahrhundert eine Ressource in öffentlichen Debatten war, um die sich zahlreiche Debattenteilnehmer bemühten, auch wenn sie mit diesem Begriff völlig unterschiedliche Bedeutungen verknüpften. Solche Positionskämpfe lassen sich nur mit Hilfe mikrohistorischer Beiträge zur Rekonstruktion von Debattenverläufen angemessen in den Blick nehmen, der Sammelband enthält einige dementsprechende Analysen. Eine nachträglich vorgenommene Zuordnung der Debattenteilnehmer in scheinbar festgefügte ideologische Lager und Parteien – beispielsweise Aufklärer vs. Gegenaufklärer – verbietet sich hingegen.
So wie der Begriff der Aufklärung kein Programmbegriff war, hinter dem sich Aufklärer versammelten, sondern Gegenstand polemischer Auseinandersetzungen und Ressource in diesen Auseinandersetzungen zugleich, so war auch der Begriff der Vernunft eine Ressource, die bestimmte Autoren bzw. bestimmte Statusgruppen wie der Gelehrtenstand für sich mehr oder weniger exklusiv in Anspruch nahmen, wie beispielweise Spiekermann in seinem Beitrag deutlich betont. Hier wäre eine grundlegende Begriffsgeschichte mit einem Fokus auf die polemische Verwendung des Begriffes im 18. Jahrhundert erst noch zu schreiben.
Viele Beiträge handeln von Themen, die bereits im 18. Jahrhundert über eine lange Vorgeschichte und Tradition verfügten, so etwa wenn darüber gestritten wurde, ob der Mensch aufgrund seiner Vernunftfähigkeit hinreichende Einsicht zu moralischem Handeln haben könne oder ihm eine solche Einsicht aufgrund seiner Verworfenheit verwehrt blieb – eine Frage, aus der sich letztlich auch die Rolle der Philosophie im Verhältnis zur Theologie ableiten ließ. Es ist ein typisches Signum nicht nur der Beiträge dieses Sammelbandes, sondern der Aufklärungsforschung generell, diese Traditionsbindungen, denen zahlreiche Debattenbeiträge der Aufklärer verhaftet waren, auszublenden und die Positionen stattdessen auf Neues, auf vermeintliche Innovation abzuklopfen. Dieser Automatismus führt dann mitunter zu so fragwürdigen Behauptungen wie derjenigen, dass mit der Aufklärung »das Medienzeitalter seinen Anfang« nimmt (S. 321). Einzig Björn Spiekermann betont in seinem Beitrag sehr zurecht bei der Analyse des moraldidaktischen Schrifttums der Aufklärung »unerwartete Kontinuitäten, die in der Aufklärungsforschung […] zu wenig berücksichtigt werden« (S. 121). Diese Feststellung kann man auch auf zahlreiche Beiträge des vorliegenden Sammelbandes übertragen.
Ein letztes Wort soll noch zu zwei Begriffen gesagt werden, die in vielen Beiträgen auftauchen, aber in meinen Augen irrtümlich verwendet werden: So ist zum einen ständig von Diskursen die Rede, wo Debatten und Diskussionen gemeint sind. Mit dieser Ubiquität des Diskursbegriffes entkleidet man ihn aller konzeptuellen Bedeutungen und Inhalte, wie sie beispielsweise Foucault mit diesem Begriff verknüpft hat. Die Beiträge dieses Sammelbandes lassen sich fast alle als Teil einer Debattengeschichte verstehen – eine Diskursgeschichte leisten sie nicht. Und wenn von Bürgertum oder gar vom Bildungsbürgertum die Rede ist, so dürfte fast durchgängig der Begriff des Gelehrtenstandes angemessener sein, um die jeweils in den Blick genommene Personengruppe adäquat zu kennzeichnen – hier sollte man sich das energische Plädoyer von Heinrich Bosse zu Herzen nehmen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Andreas Pečar, Rezension von/compte rendu de: Johannes Birgfeld, Stephanie Catani, Anne Conrad (Hg.), Aufklärungen. Strategien und Kontroversen vom 17. bis 21. Jahrhundert, Heidelberg (Universitätsverlag Winter) 2022, 552 S. (Beihefte zum Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte, 117), ISBN 978-3-8253-4822-9, EUR 58,00., in: Francia-Recensio 2023/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.3.99894