Roger Chartier, bekannt für seine bahnbrechenden Arbeiten zu Lesepraktiken und Printmedien der Vormoderne, legt mit »Cartes et fictions« etwas Besonderes vor. Im Gewand eines hübschen coffee table books vereint der von den Éditions du Collège de France herausgegebene Band eine Reihe von Aufsätzen, die sich mit der internen Geografie von literarischen Texten beschäftigen. Es geht hier also um die Konstruktion von Raum in Form von Karten; Karten, die literarische Texte zum Zeitpunkt ihrer Publikation begleiteten oder in späteren Editionen hinzugefügt wurden; Karten, die es dem Leser ermöglichen, die Wege und Irrwege der Protagonisten im imaginierten Raum mitzuverfolgen.

Für seine Reise zurück in die Konstruktion von literarischem, utopischem oder spekulativem1 Raum in der Frühen Neuzeit hat Chartier u. a. »Don Quijote de la Mancha«, »Gullivers Reisen«, »Robinson Crusoe« und Thomas Morus’ »Utopia« sowie eine Reihe von heute weniger bekannten französischen Texten und Karten ausgewählt. Die einzelnen Kapitel enthalten hochwertige, z. T. farbige Abbildungen der Kartenwerke. Der Band ist sorgfältig annotiert.

Der erste Beitrag beschäftigt sich mit der spanischen Edition von Miguel de Cervantes »Don Quijote« von 1780, die Joaquín Ibarra für die spanische Königliche Akademie herausgab. Diese Luxusausgabe in vier Bänden, für die Vincente de los Ríos, Mitglied der Königlichen Akademie, den Text edierte, enthielt nicht nur eine Analyse des Textes selbst, eine Biografie zu Cervantes und eine Chronologie der erzählten Ereignisse, sondern auch eine vom königlichen Kartografen Tomás López gezeichnete Karte Spaniens, die die Abenteuer Don Quijotes im Raum der iberischen Halbinsel nachvollziehbar machen sollte. Chartier zeichnet nach diesem Auftakt die Geschichte der Illustrationen des Don Quijote nach, macht deutlich, wie Illustrationen und Karten ab 1780 und Folgejahren den Realitäts- und Wahrheitsanspruch des Werkes verstärken bzw. Fiktion und Realität einander annähern sollten. Chartier zeigt aber auch, dass durch die Ekphrasis in Cervantes’ Erzählung Texte zu Bildern und Bilder zu Narrativen werden, d. h. auf Illustrationen durchaus verzichtet werden konnte. Spätere Versuche, Realität und Fiktion durch Karten und Illustrationen anzunähern, gingen so weit, dass Cervantes geografische und chronologische »Fehler« nachgewiesen wurden, dass beispielsweise seine Berechnungen der Zeit, die Don Quijote für seine Reisen von einem zum anderen Ort gebraucht hätte, als »falsch« identifiziert wurden.

Die »Généalogie anglaise« steht im Mittelpunkt des zweiten Teils des Bandes. Bei Gullivers Reisen (1726) geht es wie bei vielen dieser mehr oder weniger phantastischen Erzählungen um einen imaginierten Reisenden und fiktive geografische Räume, für die Kartenwerke gleich mit der ersten Edition geschaffen wurden. Auch hier wird mit realen und fiktiven geografischen Räumen, Realität und Fiktionalität ein Vexierspiel getrieben, wie in vielen anderen utopischen, dystopischen oder spekulativen Texten der Zeit auch. Was war »wahr«, was war »authentisch«? Das in der Frühen Neuzeit äußerst beliebte Genre Reiseberichte, die »authentischen Berichte«, wie es zu Beginn der Texte immer wieder heißt, waren Vergnügung, Anlass zum Staunen, zu Ungläubigkeit, zu Spekulation über all die möglichen und unmöglichen Welten, die irgendwo dort draußen auf den Weltmeeren sich dem Reisenden zu eröffnen vermochten. All dies wurde voller Ironie ins Phantastische getrieben, auch wenn manche Texte – wie beispielsweise auch Daniel Defoes »Robinson Crusoe« – näher an realen Erfahrungen zu sein schienen als Jonathan Swifts »Gulliver« oder die ein Jahrhundert zuvor entstandene »Reise zum Mond und zur Sonne« von Cyrano de Bergerac (1619–1655). Swift und Defoe orientierten sich beide an älteren fiktiven oder imaginierten Reisen bzw. »Entdeckungsfahrten«, wie sie beispielsweise im 1605 publizierten »Mundus alter et idem« nachweisbar sind und – wie Chartier zeigt – auch an den dort beigefügten Kartenwerken.

Mit anderen, früheren fiktionalen Texten und Karten beschäftigt sich auch »La carte de nulle part«, konkret mit Thomas Morus’ berühmter »Utopia« von 1516. Auch wenn die Forschung sich nach wie vor uneins ist, ob Morus’ Text als Utopie, Dystopie oder Satire gemeint war, so ist zumindest unbestritten, dass dem Text schon in seiner ersten Edition eine Karte der Insel Utopia beigefügt war. Chartier zeichnet auch in diesem Kapitel die Geschichte der imaginierten Räume und ihrer Darstellungen in den unterschiedlichen Editionen von Morus’ Werk nach. Als Unort ist die Insel Utopia eigentlich nicht abbildbar, einer der Widersprüche, mit denen fiktionaler Text und Konstruktion von imaginärem Raum bei Morus à merveille spielen.

»En France: préciosité et mystique« und »En France: querelle de priorité et polémique« beschäftigen sich mit imaginiertem Raum und literarischen Texten im Frankreich des 17. Jahrhunderts. Hier werden transkulturelle Genealogien bzw. Rezeptionsprozesse früherer englischer oder italienischer Literaturen und ihrer imaginären Räume nachgezeichnet. Dem Kenner dieser Quellen eröffnen sich dabei nicht nur Intertextualitäten und Interpiktorialitäten, sondern auch Einblicke in die Herausbildung einer europäischen Bildsprache, die nicht nur die Grenzen zwischen imaginiertem und »realem« Raum oft verschwinden ließ, sondern auch Bild- und Textsprachen von Kolonisierten mitverarbeitete2 – was Chartier nicht thematisiert.

Der Band wurde, wie Chartier eingangs bemerkt, in der Zeit der Covid-19-Pandemie, während Phasen des confinement (Lockdown) geschrieben, einer ganz spezifischen Form von »Abgeschiedenheit«, die der Autor emphatisch mit einigen seiner imaginären Protagonisten zu teilen scheint. Dies hat ein Stück französischer Gelehrsamkeit hervorgebracht, die in diesem konkreten Fall oft deskriptiv ist, manchmal auch im Impressionistischen verharrt, aber immer einen Lesegenuss darstellt und Lust macht, all diese Texte wieder einmal zu lesen. Aktuelle Forschungskontexte und Paradigmen bleiben bei Chartier allerdings außen vor: Postcolonial turn bzw. die Kolonialität der Texte werden ebenso wenig thematisiert wie die Tatsache, dass das Material sich ausgezeichnet eignet, Grundfragen der linguistic, spatial und iconic turns zu bearbeiten.

1 Zu frühneuzeitlichen Utopien als »spekulativen Texten« siehe Susanne Lachenicht, Cultures of Speculation, Histories of Speculation, In: Jeanne Cortiel, Christine Hanke, Jan Simon Hutta, Colin Milburn (Hg.), Practices of Speculation: Modeling, Embodiment, Figuration, Bielefeld 2020, S. 31–48.
2 Siehe beispielsweise Mary Louise Pratt, Arts of the Contact Zone, in: Profession (1991), S. 33–40.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Susanne Lachenicht, Rezension von/compte rendu de: Roger Chartier, Cartes et fictions (XVIe–XVIIIe siècle), Paris (Les Éditions du Collège de France) 2022, p. 109, 34 ill. (Faire savoir), ISBN 978-2-7226-0585-5, EUR 24,00., in: Francia-Recensio 2023/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.3.99895