Die Wissenschaft beim Wort genommen – so könnte man den vielversprechenden Titel zu einem Projekt unter der Leitung zweier Literaturwissenschaftlerinnen im Deutschen paraphrasieren. Das Buch ist Frucht des Forschungsprogramms »Formes du savoir 1400–1750«, von 2011 bis 2015 an der Maison des Sciences de l’Homme d’Aquitaine und der Universität Bordeaux beheimatet1. Und diese längerfristige Zusammenarbeit merkt man dem Buch an, meistens positiv. Es handelt sich um ein Projekt, das sich während der Arbeit verändert hat: Stand am Beginn die Idee eines »lexique raisonné« der Wissenschaften in der Renaissance – hier gemeint 15.–17. Jh. – so wurde daraus eine Sammlung von Fallstudien, deren Gemeinsamkeit darin besteht, die sprachliche Formung von Wirklichkeiten und spezifischer von wissenschaftlichen Konzepten erfassen zu wollen. Diese Entscheidung, nach der nun einige wenige Begriffe und ihre Wortfamilien in ihrem gelehrten Kontext und Gebrauch untersucht werden, hat dazu beigetragen, dass der analytische Ertrag sicherlich größer sein konnte als er es bei einem enzyklopädischen Zugang gewesen wäre. Das Buch ist in drei große Abschnitte geordnet, die jeweils durch einordnende Reflexionen der beiden Herausgeberinnen eingeleitet werden. Eine gemeinsame, strukturierte, zwölfseitige Bibliografie schließt den Band ab. Sie verzeichnet sowohl Forschungsliteratur als auch Hinweise auf zeitgenössische sprachliche Nachschlagewerke und die in den Aufsätzen verwendeten Quellen. Die Fokussierung auf französische Kontexte wird hier zwangsläufig ebenso gut erkennbar wie die Lücken und die Art des Umgangs mit den Quellen: Trotz eines Beitrags über Anatomie vermisst man Vesalius; insgesamt finden sich v. a. lateinische, französische und italienische Quellen, wenig Englisches (Isaac Newton, Thomas Sprat, aber kein Bacon), noch weniger Deutsch(sprachig)es2. Neben Texten aus der Renaissance stehen antike Autoren wie Augustinus, Plinius, Vitruv in französischen (zeitgenössischen und neueren) Übersetzungen.

Im ersten Block des Bandes, »Noms et images de la science«, werden mit der Neugierde oder Wissbegierde grundlegende, gemeinsame Eigenschaften wissenschaftlichen Handelns thematisiert (Guylaine Pineau über Ambroise Paré und den Wunsch, alles Wissbare zu erlernen; Nicolas Corréard über »curiosité/pérégrinité« als Wegesmetapher und Kritik an der Wissbegierde) sowie im Beitrag von Noémie Castagné zu den Begriffen der »scienza delle mecaniche« abgrenzende Begriffe fokussiert. Der zweite Block führt dies mit der Auseinandersetzung mit dem Begriff der »expérience« – und in Abgrenzung zu »experimentum«, dem Verhältnis zwischen Theorie und Praxis fort. Expérience als Schlüsselbegriff zu wählen, liegt nahe, wird aber auch in der Einleitung der Herausgeberinnen zu diesem Abschnitt sehr gut begründet: Sie heben als seine Besonderheit hervor, dass er sowohl einen Vorgang als auch ein Ergebnis bezeichne (ähnlich wie dies für »création« gelte). Expérience wird für die Renaissance als zunächst individuelle, dann aber institutionelle Praktik verstanden, mit ihrer Hilfe sollen Hypothesen getestet werden, um aus ihnen Theorien und neues Wissen zu gewinnen.

Giacomotto-Charra und Marrache-Gouraud weisen durchaus daraufhin, dass ihr Buchprojekt parallel zu ähnlichen Forschungen zum Begriff der expérience verlaufen sei: Zu Beginn ihrer gemeinsamen Arbeit seien Forschungen zu expérience für Renaissance und Mittelalter noch ein mehr oder weniger vollständiges Desiderat gewesen und der Begriff bzw. die damit verbundene Praktik als distinktives Merkmal der Wissenschaften seit der sogenannten »scientific revolution« verstanden worden; neuere Ansätze, die während der Diskussionen ihrer Forschungsgruppe in anderen Kontexten und an anderen Stellen publiziert wurden, arbeiten sie in ihre eigene Argumentation ein. In den einzelnen Beiträgen gelingt dies nicht immer; dies scheint eine unwillkommene Folge des längeren Entstehungsprozesses zu sein. Mit Verweis auf die Arbeiten von Florike Egmond wird bemerkt, dass ergänzend zum Wortgebrauch Praktiken analysiert werden müssten – eine praxeologische Erweiterung einer Historischen Semantik wird also zumindest angedacht, wenn auch der Fokus der meisten Beiträge grundsätzlich auf der semantischen Ebene verbleibt.

Der dritte Abschnitt schließlich ist dem Sehen als einer zentralen wissenschaftlichen Praktik gewidmet – hier entfernt sich der Band am weitesten von seinem Fokus auf die Worte der Wissenschaft und verfährt teilweise dezidiert praxeologisch, sodass die Materialität und die Medialität des wissenschaftlichen Arbeitens in den Blick kommen (als »observation de papier«). So analysiert Benoît Jeanjean das Zusammenspiel von Dichtung, Bild und Wissenschaft und das Verhältnis zwischen Autor und Rezipienten im »Theatrum orbis terrarum« von Abraham Ortelius. Der Beitrag von David Banks (»Le procès de perception dans la presse savante à la fin du XVIIe siècle«) konzentriert sich darauf, wie die wissenschaftlichen Praktiken der Wahrnehmungsformen in den gelehrten Zeitschriften diskutiert wurden. Claude La Charité geht in seinem Aufsatz über den ichthyologischen Traktat von Guillaume Rondelet auf das Zusammenspiel von Bild und Text ein und zeigt, wie dieser auch Geschmack und Geruch (S. 326f.) als Elemente der kontemplativen Beobachtung einbezieht. Allerdings kommt La Charité komplett ohne Diskussion der wissenschaftsgeschichtlichen Forschung zu epistemischen Praktiken aus, die gerade zu dem Verhältnis von Kontemplation, Beobachtung und Dialog viele Beiträge geliefert hat, die gewinnbringend hätten genutzt werden können. Die wichtigsten Arbeiten von Brian Ogilvie, Gianna Pomata u. a. sind in der Gesamtbibliografie des Bandes genannt, benutzt werden sie u. a. von Grégoire Holtz, der einen perspektivenreichen Beitrag über die Reiseliteratur der Renaissance beisteuert. Nicht zuletzt ihm ist deshalb zu verdanken, dass eine vertiefte semantische Diskussion als Gewinn dieses Abschnitts zu verbuchen ist. Holtz thematisiert die Bedeutung von »voir« als »observation« und ihren Zusammenhang mit »observance« als Befolgen einer Regel. Er arbeitet heraus, dass es mit einem schlichten Triumph der Autopsie nicht getan ist, sondern dass es immer auch um die soziale und kulturelle Geltung von Beobachtungen geht.

Dieser Beitrag ist zugleich aber auch ein gutes Beispiel dafür, dass »Wissenschaft« für diesen Band nicht als ein klarer Bereich (sozial, kulturell) abgegrenzt wird: Was unter Wissenschaft verstanden wird, bleibt insgesamt implizit und das mutet für Untersuchungen, die sich der Wissenschaftssprache widmen, einigermaßen erstaunlich an. In der sehr anregenden Einleitung wird zwar die Bedeutung von »science« und die Abgrenzung zu »ars« problematisiert, doch hat dies weder für alle Beiträge Folgen, noch wird die Differenzierung für die Anlage des Bandes nutzbar gemacht. Auch deswegen ist es bedauerlich, dass bei der Weite des Blicks, die der Band pflegt, wichtige universitäre Disziplinen wie Jura und Theologie mit ihren eigenen Wissenschaftssprachen dennoch ganz außen vor geblieben sind: Weder ist es angebracht, die modernen Differenzierungen von »sciences humaines« und »sciences naturelles« eins zu eins zu übernehmen, noch kann man von einer einheitlichen Wissenschaftssprache ausgehen. Deshalb hätten diese wesentlichen Bereiche des gelehrten Wissens gemeinsam mit der Astronomie einen Platz im Band verdient, um den Fokus auf die Sprachlichkeit der frühneuzeitlichen Wissenschaft scharf zu halten und Querverbindungen und Abgrenzungen zu thematisieren.

Dieser Eindruck trifft sich aber mit der ebenfalls nicht klar definierten Epoche »Renaissance«, die im Titel genannt ist. Durchaus unterschiedliche Autoren, Texte und Themen, die nur bei einem recht robusten Verständnis zu einer gemeinsamen Renaissance gezählt werden können, werden in dem Band zusammengestellt.

Anregend ist das Buch dennoch, weil hier Fallstudien einerseits zu weniger zentralen Bereichen der Wissensgeschichte versammelt sind (wie z. B. Gartenbau, Militär) und andererseits für zentrale Bereiche wie die Anatomie und die Naturgeschichte neue und weniger übliche Perspektiven geboten werden: Wenn Valérie Worth-Styllanou die Verwendung von »expérience« in französischen Übersetzungen (aus dem Griechischen und Lateinischen) von Medizintraktaten analysiert, dann schreibt sie damit zu einem in jeder Hinsicht zentralen Bereich der Wissenschaften – Medizin wird an den Universitäten gelehrt – aber dennoch von einer weniger zentralen Seite: Übersetzungen werden außerhalb der Universität als Ort der Wissenschaft rezipiert.

Zur Validierung der begriffsgeschichtlichen Untersuchungen sollten sowohl der Ort der jeweiligen Disziplin reflektiert werden, als auch der Publikationsort und der Platz des (allermeist männlichen) Autors im Feld des Wissens: Der Legitimationsdruck, sich als Teil der Wissenschaft zu beweisen, ist im Gartenbau oder auch für die Geschichte der Fische größer als in der Medizin; ein Universitätsprofessor, der einen gelehrten Traktat veröffentlicht, hat eine andere Position als Montaigne, der sich zu medizinischen Fragen äußert. Dies betrifft den Beitrag von Hervé Baudry, der unter dem Titel »Réflexion sur la notion d’expérience« die Auseinandersetzung zwischen Montaigne und dem Arzt Antoine Martin behandelt. Er stellt die Polysemie des Begriffs heraus, bei dem sich der »docteur en médecine méconnu« (Baudry, S. 173) vehement gegen den Wert der ganz persönlichen Erfahrung von Montaigne wendet, um die gelehrte Medizin zu verteidigen (»autopathographie contre nosologie«, Baudry, S. 177). Im weiteren Verlauf des Beitrags wird aber deutlich, dass es weniger um eine Verteidigung der theoretischen Wissenschaft geht als um das Vertrauen des Patienten in die Heilfähigkeiten des ärztlichen Praktikers: Dies wird durch den Rekurs auf die eigenen, persönlichen Erfahrungen des Patienten untergraben, wodurch sein gläubiges Verhältnis zur ärztlichen Autorität beschädigt wird.

Trotz der längerfristigen Zusammenarbeit bleibt der Eindruck also zwiespältig. Eine Konzentration auf die Sprachlichkeit der Wissenschaften hätte dem Band eine bessere sprachliche Einheitlichkeit und intensivere Wechselbeziehungen zwischen den Beiträgen ermöglicht. Die sachliche Erweiterung der Untersuchungen auf die wissenschaftlichen Praktiken und Bilder und die zeitliche Erweiterung bis ins 18. Jahrhundert machen andere Facetten sichtbar, die klugen Einleitungen zu den Beitragsgruppen helfen dabei, auch für die einzelnen Aufsätze gemeinsame Perspektiven zu entdecken und machen den Band insgesamt lesenswert.

1 Hinweise zum Projekt, zu Personen und bibliografische Materialien finden sich: https://centre-montaigne.huma-num.fr/projet/archives-formes-du-savoir/presentation.html [12.9.2023]
2 In deutscher Sprache allein Euchaire Rösslin, Der Swangeren Frawen und Hebammen Roszgarten, Straßburg 1513; aus deutschen Zusammenhängen werden Cornelius Agrippa von Nettesheim und Conrad Gesner genutzt, Johann Valentin Andreae nur en passant, das lateinische Wörterbuch von Johann Altensteig wird zwar als Werkzeug genannt, der Autor aber nicht im Register geführt; von Valentin Cordus ist lediglich die französische Übersetzung seines pharmakologischen Werkes genannt (»Dispensatorium pharmacorum omnium, quae in usu potissimum sunt«).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Albert Schirrmeister, Rezension von/compte rendu de: Violaine Giacomotto-Charra, Myriam Marrache-Gouraud (dir.), La Science prise aux mots. Enquête sur le lexique scientifique de la Renaissance, Paris (Classiques Garnier) 2021, 460 p. (Rencontres. Série Colloques, congrès et conférences sur la Renaissance européenne, 499; 115), ISBN 978-2-406-10995-2, EUR 35,00., in: Francia-Recensio 2023/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.3.99898