Karneval war ein Thema heißer wissenschaftlicher Debatten: Die ältere Auseinandersetzung, ob man in dem Fest am Vorabend der Fastenzeit (»Fastnacht«, analog Weihnacht) ein survival heidnischer Religion erkennen könne oder sie ganz im christlichen Zeichensystem als Kampf gegen die Sünde, als Völlerei vor dem Fasten, verstehen müsse, ist überholt seit man das Konzept des Fests der Verkehrten Welt (Bob Scribner [1977], zu ergänzen wäre Victor Turners Konzept der Liminalität im »Ritual Process« [1969], erwähnt S. 134) anwendet. Dann ist man nicht mehr Rhetorik der kirchlichen Prediger gegen die Volkskultur ausgeliefert oder dem Verdikt der Protestanten gegen die katholischen Feste. Bis heute feiert die reformierte Stadt Basel ihr Fest inmitten der sonst katholischen alemannischen Fastnacht. Diese letztere Frage stellt Tiphane Guillabert-Madinier (TGM): Wie wird das Thema in der Reformationszeit instrumentalisiert und wie sieht die Praxis des Festes aus in der entstehenden Konfessionalisierung, der Policey-Ordnung des frühmodernen Staates, der Sozialdisziplinierung. Die Forschungspositionen und -defizite sind pointiert und kundig dargestellt, kundig in französischen wie deutschen Kontexten (S. 13–33). TGM geht der Frage in verschiedenen Quellengattungen nach. Zunächst untersucht sie die Verwendung der Metaphern aus dem Begriffsfeld in der Rhetorik der Theologen der 1520er-Jahren, der Reformatoren wie der Altgläubigen, so besonders Luther, Bugenhagen, Murners Katzenmusik als Polemik gegen den Kätzer/Ketzer1, der Narr, die Maskerade etc. (S. 37–142). Im zweiten Teil geht es um karnevaleske Provokationen, die die »falsche Kirche« dem Spott preisgeben, indem sie sie kreativ aufführen als Karikatur. Eine Karte (von der Autorin selbst gestaltet) verzeichnet die lutherischen Fälle von Provokationen (S. 143–248; Karte S. 136). Ein gut dokumentierter Fall ist, wie sich in Nürnberg das Schembartlaufen binnenkonfessionell zur Demonstration gegen die Diktatur des lutherischen Pfarrers Andreas Osiander richtet. Im dritten Teil untersucht TGM das entscheidende Brecheisen, wie nämlich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts politische Autoritäten den Karneval im Namen der Disziplinierung untersagen (S. 249–338). Hier verwendet TGM neben Kirchenordnungen die Visitationsprotokolle der Pfalzgrafschaft Zweibrücken aus der Zeit 1540–1610. Daraus geht hervor, dass Pfarrmitglieder zum Karnevalfeiern in die benachbarte anderskonfessionelle Pfarrei laufen, um an dem Fest teilnehmen zu können. Auch hier hat TGM wieder, wie im ganzen Buch, instruktive Grafiken verwendet, die das Ergebnis visuell zusammenfassen (S. 336f). Während sich TGM sonst auf die zwei Konfessionen begrenzt, die durch den Augsburger Religionsfrieden legitimiert waren, kommen hier auch Reformierte (Calvinisten) vor.

35 Abbildungen und Grafiken, teils farbig, illustrieren das auch sonst gut gedruckte und fadengeheftete Buch. Es stellt die Druckversion ihrer thèse dar, die als cotutelle an der Universität Neuchâtel wie an der Pariser Sorbonne zurecht mit Auszeichnung approbiert wurde. Ein zweisprachiger Quellenanhang und ein Index für Namen (auch moderne Forscherinnen und Forscher) und Orte komplettieren das Buch. Sprachlich sind die Texte in einem anspruchsvollen Französisch geschrieben, die lateinischen und frühneuhochdeutschen Wörter, Begriffe und Texte gut und kompetent erklärt.

Die Arbeit von TGM untersucht sorgfältig und quellengesättigt einen konkreten Konflikt bzw. Konfliktpotential in den Kämpfen um die Reformation. Sie arbeitet an der Verwendung oder Polemik des Karnevals/der Fastnacht heraus, wie das Paradigma ‚Konfessionalisierung‘ nicht nur eine Konfrontation darstellt, einen Dualismus, der überall und in all den Jahren nur einer der drei Konfessionen zuzuschreiben ist, sondern dass Differenzierungen der »Interkonfessionalität, Transkonfessionalität, binnenkonfessionellen Pluralität«2 nötig sind. Dies ist TGM sehr gut gelungen an einer Vielzahl von Quellen unterschiedlicher Gattungen, an den rhetorischen Metaphern, an der Praxis des Festes, an normativen Verboten in Kirchen- und Policey-Ordnungen und der Untersuchung der gelebten Praxis bei den Visitationen in freien Reichsstätten und auf dem Lande. Die Monografie ist methoden- und theoriebewusst geschrieben, debattiert die verschiedenen Ebenen. Alle, die zur Frühen Neuzeit forschen, sollten sie durcharbeiten: eine vorbildliche Forschungsarbeit, gekonnt präsentiert.

1 Murner ist Gegenstand eines Aufsatzes des Rezensenten: Alle Tage Karneval? Reformation, Provokation und Grobianismus, in: Christoph Auffarth, Sonja Kerth (Hg.), Glaubensstreit und Gelächter. Reformation und Lachkultur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Münster 2008 (Religionen in der pluralen Welt, 6), S. 79–105. Dort auch ein Forschungsbericht: Glaubensstreit und Gelächter: Religion – Kultur – Kunst. Eine Einführung, S. 1–18.
2 So der Titel des Sammelbandes, herausgegeben von Kaspar von Greyerz u. a. mit ersten Problematisierungen (SVRG 201) Gütersloh: GVH 2003. Weitergeführt als SVRG 214, 2013: Andreas Pietsch und Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Konfessionelle Ambiguität: Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Christoph Auffarth, Rezension von/compte rendu de: Tiphaine Guillabert-Madinier, Les combats de carnaval et réformation. De l’instrumentalisation à l’interdiction du carnaval dans les églises luthériennes du Saint-Empire au XVIe siècle, Neuchâtel (Éditions Alphil-Presses universitaires suisses) 2021, 420 p., 10 ill. en coul., 25 en n/b, ISBN 978-2-88930-3618, CHF 39,00., in: Francia-Recensio 2023/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.3.99899