1248 wurde die Pariser Sainte-Chapelle geweiht. Im Königsplast auf der Île-de-la-Cité gelegen, diente die königliche Privatkapelle vornehmlich der Aufbewahrung der Passionsreliquien, die von Ludwig IX. in drei Tranchen 1239–1242 vom lateinischen Kaiser in Konstantinopel erworben werden konnten. Sehr viel wurde in den vergangenen Jahren zur Geschichte der Sainte-Chapelle, ihrer künstlerischen Ausstattung und institutionellen Verfasstheit geforscht und publiziert. Wenig interessiert zeigte man sich dagegen an der in der Kapelle ausgeübten musikalischen Praxis, sodass als Standardwerk noch immer Michel Brenets doch deutlich in die Jahre gekommene Studie von 1910 über »Les musiciens de la Sainte-Chapelle du Palais« dient. Die vorliegende Untersuchung von Charles-Yves Élissèche tritt nun nicht mit der Absicht an, Brenet in Gänze zu ersetzen, sondern durch die Fokussierung auf »nur« zwei Jahrhunderte, das 16. und 17., und durch die Einbeziehung all derjenigen gedruckten und ungedruckten Quellen und Literatur, die Brenet nicht zur Verfügung standen, das bisher Bekannte neu zu justieren und zu ergänzen. Da zum besseren Verständnis der in der Frühen Neuzeit gepflegten musikalischen Praxis der Blick zurück ins späte Mittelalter geradezu zwingend ist, erfährt man zusätzlich (gleichsam auf Umwegen) auch Neues zur mittelalterlichen Musikpflege in einer der wichtigsten kirchlichen Institutionen Frankreichs. Geistliches und musikalisches Leben waren in der Sainte-Chapelle im 16. und 17. Jahrhundert eng miteinander verwoben: »La Sainte-Chapelle de Paris n’est plus uniquement la monumentale châsse des Reliques de la Passion, elle est l’église d’une assemblée de musiciens« (S. 399).
Die Qualität geistlicher Musik – und das gilt nicht allein für die Sainte-Chapelle – steht und fällt mit dem zur Verfügung stehenden, gut ausgebildeten Personal, steht und fällt darüber hinaus auch mit der angemessenen Vergütung. Die Sainte-Chapelle stellte in Fragen der Remuneration einen Sonderfall dar, wurden die Musiker doch ausschließlich aus der königlichen Schatulle bezahlt (was freilich auch gewisse Zugriffsrechte des Königs auf besonders herausragende Sänger mit sich brachte). Im besprochenen Zeitraum verfügte die Sante-Chapelle über ein beneidenswertes Maß an Autonomie, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen war, dass sich die königliche Residenz nicht mehr auf der Île-de-la-Cité, sondern im Louvre befand. Ziel der Untersuchung ist es, »d’examiner la richesse institutionnelle de la Sainte-Chapelle, du point de vue de la diversité des ecclésiastiques qui en sont membres« (S. 12). Damit sind drei Personengruppen angesprochen: 1. der maître de musique (dem zunächst vor allem die Sorge um die Chorknaben oblag), 2. die (restlichen) Sänger, die zumeist aus dem Kreis der Kapläne (chapelains) und Kleriker (clercs ordinaires) stammten, 3. die Kanoniker, die zwar nicht ausführende Musiker waren, an einer opulenten, wohl regulierten Kirchenmusik aber stark interessiert waren und deren organisatorische Grundlagen sicherstellten. An einschlägigem Quellenmaterial besteht kein Mangel: die Archivüberlieferung findet sich in den Archives nationales unter der Signatur LL (établissements ecclésiastiques). Einschlägig in vorliegendem Fall sind vor allem die sog. mémoriaux, die Urkundenabschriften aus heute verlorenen Registern überliefern, vor allem aber die Register der Kapitelbeschlüsse, die für den Zeitraum von 1566 bis 1709 nahezu geschlossen erhalten geblieben sind. Hinzu kommt das, was vom Archiv der maîtrise die Zeitläufte überdauert hat, daneben einige liturgische Ordines, einschlägige Obituarien und historiografische Quellen wie etwa die bisher unediert gebliebenen »Mémoires pour servir à l’histoire de la Sainte Chapelle du Palais Royal« des Kanonikers Gilles Dongois, der von 1663–1708 amtierte.
Zu Beginn des 16. Jahrhunderts wirkten an der Sainte-Chapelle zwölf Kanoniker und ein Thesaurar. Jedem Kanoniker standen als Subalterne ein Kaplan (chapelain ordinaire) und ein weiterer Kleriker (clerc ordinaire) zu. Ursprünglich diente dieses subalterne, mit (niederen) Weihen versehene Personal wohl tatsächlich dazu, die Arbeitslast der Kanoniker zu mindern, bald aber stellte es den Pool dar, aus dem man sich für die musikalische Versorgung an der Kapelle bediente. Ab 1405 erhielten die Kanoniker das Recht, aus ihren Reihen einen Kantor (chantre) zu bestimmen, der langsam zum zweiten Mann innerhalb des Kapitels nach dem Thesaurar aufsteigen sollte. Erstaunlich ist freilich, dass sich die Statutengesetzgebung innerhalb der Sainte-Chapelle mit musikalischen Fragen wenn überhaupt, dann nur sehr am Rande beschäftigte. Immer wieder sind Rivalitäten zwischen dem Thesaurar und den übrigen Mitgliedern des Kapitels um die Ernennung und ggf. Disziplinierung des maître de musique erkennbar, der zunächst unter den ecclésiastiques réguliers ausgewählt, bald aber – dem Gebot von Professionalisierung und Qualitätssteigerung folgend – auch von außen berufen werden konnte. Bei den beiden letzten Amtsträgern im 17. Jahrhundert, François Chaperon und Marc-Antoine Charpentier, ist die Sachlage klar: sie wurden als musikalisch hochkompetente maîtres de musique verpflichtet, nicht als Kleriker, von denen man vornehmlich die musikalische Unterweisung und Disziplinierung der Chorknaben erwartete. Professionalisierungsprozesse sind auch in Hinblick auf die clercs und chapelains zu beobachten.
Neben den Sängern gab es weitere Musiker, wobei die Rolle des erst ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nachweisbaren Organisten seltsam schattenhaft bleibt. Er wird völlig zu Recht als »musicien oublié des registres« (S. 263) bezeichnet, was freilich auch damit zusammenhängen könnte, dass er nur punktuell anwesend zu sein hatte. Längst nicht alle Stundengebete wurden von der Orgel begleitet, sie scheint den feierlichsten liturgischen Momenten vorbehalten gewesen zu sein. Auch die Informationen zu den beiden Orgeln in der Kapelle fließen spärlich. Immer wieder tauchen sie im Zusammenhang mit Reparaturen auf, doch reichen diese Informationen nicht aus, um mögliche Dispositionen rekonstruieren zu können.
Die Sainte-Chapelle war kein allein auf sich selbst bezogener klerikaler Kosmos, unterhielt sie doch musikalische Verbindungen zu anderen Kirchen bzw. Ordensgemeinschaften in der Stadt. Dies wird insbesondere mit Blick auf die Jesuiten exemplifiziert, wobei man zusätzlich gerne etwas mehr über die Verbindungen zu all denjenigen Bettelordensgemeinschaften erfahren hätte, die seit Gründung der Kapelle die Messen an den hohen Reliquienfesten zelebrierten. Ein klares Informationsdefizit besteht auch in Hinblick auf die in den Fußnoten zwar angekündigten, jedoch nicht ausgeführten Schaubilder (etwa S. 65, n. 65 mit Verweis auf eine Auflistung der »chanoines musiciens« oder S. 67, n. 71 mit Verweis auf eine Tabelle der »maîtres de musique aux XVIe et XVIIe siècle«).
Insgesamt handelt es sich um eine solide Arbeit, die bereits Bekanntes ergänzt und korrigiert, darüber hinaus jedoch sehr viel Neues nicht nur für die Musikgeschichte im Besonderen, sondern die Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit im Allgemeinen liefert. Man versteht nun tatsächlich sehr viel besser, welche Herausforderungen es im Zuge von musikalischen Professionalisierungsbestrebungen an einer der Hauptkirchen des französischen Königreichs zu bewältigen galt.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Ralf Lützelschwab, Rezension von/compte rendu de: Charles-Yvan Élissèche, Le personnel musical de la Sainte-Chapelle de Paris. XVIe et XVIIe siècles, Paris (Classiques Garnier) 2022, 423 p. (Musicologie, 15), ISBN 978-2-406-12557-0, EUR 49,00., in: Francia-Recensio 2023/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.3.99900